Die Jahreszahl 15 hat in der Geschichte der Schweiz eine besondere Bedeutung. Mehrere wichtige Ereignisse haben sich in einem solchen Jahr abgespielt. 2015 häufen sich deshalb die Jubiläen. Sie werden reichlich Anlass bieten für Streit zwischen den Anhängern einer nach innen gerichteten Schweiz und den Verfechtern eines weltoffenen Landes. Es geht um zwei umstrittene Schlachten, eine Eroberung und eine Konferenz.
Am 15. November 1315 feierten die Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden am Ägerisee einen glorreichen Sieg gegen Herzog Leopold I. von Habsburg. Sie liessen vom Hang herab Steine und Baumstämme auf das gegnerische Heer rollen. Dann machten sie es mit ihren Hellebarden nieder. Auf Seiten der Habsburger sollen rund 2000 Mann gefallen sein, die Eidgenossen beklagten nur etwa zwölf Tote. So besagt es der Mythos, der etwa in Leopold Lindtbergs legendärem Spielfilm «Landammann Stauffacher» von 1941 beschworen wird.
Die Realität sah wohl anders aus. Was vor 700 Jahren im heutigen Kanton Zug geschah, lässt sich kaum rekonstruieren. Die Quellenlage ist dürftig, erste Berichte über die Schlacht entstanden erst Jahre später. Mittelalterliche Chroniken bestehen zudem häufig mehr aus Propaganda denn aus Fakten. So dürfte die Zahl von 2000 toten Habsburgern masslos übertrieben sein. Es gibt keine archäologischen Funde, die ein solches Gemetzel belegen. Die Fernsehserie «Die Schweizer» wagte es 2013 anzudeuten, dass am Morgarten gar keine Schlacht stattgefunden hat.
Auslöser der Ereignisse war ein Streit um Alpweiden zwischen dem unter habsburgischem Schutz stehenden Kloster Einsiedeln und den Schwyzern. Diese überfielen am Dreikönigstag 1314 das Kloster, worauf der Bischof von Konstanz den Kirchenbann über Schwyz, Uri und Unterwalden verhängte. Die drei Waldstätte verbündeten sich mit Herzog Ludwig von Bayern, der sich mit Friedrich I. von Habsburg um die Königskrone des Heiligen Römischen Reiches stritt.
Friedrich habe deswegen seinen Bruder Leopold zu einer «Strafexpedition» nach Schwyz entsandt, so der Mythos. Der verstorbene Historiker Roger Sablonier, Autor des Buches «Gründungszeit ohne Eidgenossen», wies diese Version 2007 in der «Neuen Zuger Zeitung» zurück: «Die Habsburger Schar hatte sicher keine Invasion von Schwyz im Sinn, als sie durch das Ägerital ritt.» Leopold habe in Einsiedeln Präsenz markieren wollen und sei unterwegs überfallen worden.
Kam es am Morgarten zu einem Scharmützel? Wollte Leopold darauf nichts mehr riskieren, weil seine Truppen im Bürgerkrieg zwischen Friedrich und Ludwig gebraucht wurden? Trat er den Rückzug an, den die eidgenössische Propaganda zu einer verheerenden Niederlage umdeutete? Was immer 1315 geschah, es festigte das Bündnis der drei Waldstätte. Die Grundlage für die heutige Schweiz war gelegt.
Nach den habsburgischen Niederlagen bei Sempach 1386 und Näfels 1388 kam es zu einem Waffenstillstand, der eine faktische Anerkennung der Eidgenossenschaft darstellte. 1415 brachen die Feindseligkeiten erneut aus, und wieder spielte ein internationaler Zwist eine wichtige Rolle. Sigismund von Luxemburg war König des Heiligen Römischen Reiches, doch die Krone wurde ihm vom habsburgischen Herzog Friedrich IV. streitig gemacht.
Sigismund entband die Eidgenossen von ihrem Vertrag mit Habsburg, worauf sie im April und Mai 1415 handstreichartig den Aargau besetzten. Die Habsburger verloren ihre Stammlande – Schloss Habsburg liegt in der Nähe von Brugg –, während die aus acht «Orten» bestehende Eidgenossenschaft ein zusammenhängendes Territorium erhielt.
Trotzdem wird das Jahr 1415 in der Schweizer Erinnerungskultur gerne verdrängt. Der Badener Historiker Bruno Meier spricht von einem «Sündenfall», denn mit der Eroberung des Aargaus wurden die Eidgenossen faktisch zu Kolonialherren. Im westlichen Teil herrschten die Berner, die Freien Ämter und die Grafschaft Baden im Osten wurden gemeinsam verwaltet. Erst 1803, nach dem Zusammenbruch der Alten Eidgenossenschaft, wurde der Aargau ein eigenständiger Kanton.
Die Morgarten-Kontroverse ist ein laues Lüftchen im Vergleich zur stürmischen Debatte um Marignano. Konservative Kreise deuten die schlimmste militärische Niederlage der Schweizer Geschichte, künstlerisch verewigt in Ferdinand Hodlers Wandgemälde «Rückzug der Eidgenossen von Marignano» im Landesmuseum in Zürich, als Beginn der Neutralität. Die Stiftung Pro Marignano will das 500-Jahr-Jubiläum entsprechend aufwändig zelebrieren. Gegen diese Deutung hat sich Widerstand von links unter dem Motto «Hurra, verloren! 499 Jahre Marignano» formiert.
Was geschah wirklich im Mailänder Vorort Marignano, der heute Melegnano heisst? Zu Beginn des 16. Jahrhunderts drang die Eidgenossenschaft nach Norditalien vor, wo verschiedene Mächte um das kriselnde Herzogtum Mailand kämpften. 1512 gelang es den Eidgenossen, die Franzosen aus Mailand zu vertreiben und faktisch die Herrschaft zu übernehmen. Doch die Grossstadt erwies sich als zu grosser Brocken. Eine Aufnahme in die Eidgenossenschaft hätte «das labile Gefüge des Bundes aufgesprengt», schrieb der Freiburger Historiker Volker Reinhardt in der «NZZ am Sonntag».
1515 machte sich der französische König Franz I. zur Rückeroberung Mailands auf, mit Zuckerbrot und Peitsche. Er setzte eine Armee in Marsch, bot den Eidgenossen aber auch einen lukrativen Vertrag an. Die westlichen Orte Bern, Freiburg und Solothurn akzeptierten und zogen ihre Truppen ab, doch der Grossteil des Heeres wollte kämpfen.
Am 13. und 14. September kam es bei Marignano zur Schlacht, in der die moderne Kriegstechnik der Franzosen und der mit ihnen verbündeten Venezianer mit Artillerie und Kavallerie über die für ihre Brutalität gefürchteten «Gewalthaufen» der Eidgenossen triumphierte. Das eidgenössische Heer verlor gegen 10'000 Mann und setzte zum geordneten Rückzug an.
Danach verzichteten die Eidgenossen auf aussenpolitische Abenteuer, allerdings eher unfreiwillig. Die Reformation – Huldrych Zwingli war als Feldprediger in Marignano dabei – führte zur konfessionellen Spaltung des Bundes und verhinderte eine gemeinsame Expansionspolitik. Ausserdem hatte man sich in mehreren Verträgen faktisch der «Schutzmacht» Frankreich unterworfen. Weiter blieb die Eidgenossenschaft «das wichtigste Söldnerreservoir des frühneuzeitlichen Europa», so Volker Reinhardt. Damit sei «der Begriff Neutralität bereits relativiert».
Für eine «echte» Feier der Neutralität müsste man 300 Jahre nach Marignano ansetzen, beim Wiener Kongress, auf dem die europäischen Grossmächte den Kontinent nach den Wirren der napoleonischen Kriege neu ordneten. Dabei anerkannten sie erstmals offiziell die immerwährende bewaffnete Neutralität der Schweiz.
Sie taten es nicht aus gutem Willen: Keine europäische Macht sollte die strategisch wichtigen Alpenpässe kontrollieren. Eine neutrale Schweiz bot dafür Gewähr, doch eine derartige Neutralität ist kaum nach dem Gusto der Nationalkonservativen. Denn die Schweiz wurde von den «Grossen» faktisch dazu verpflichtet.
Der Wiener Kongress hat aus einem weiteren Grund Bedeutung für die Schweiz: Er ermöglichte den Beitritt der Kantone Genf, Neuenburg und Wallis, womit das Territorium der Schweiz in seiner heutigen Form Gestalt annahm. Wobei Neuenburg noch für einige Jahrzehnte eine kuriose Doppelrolle spielte: Man war gleichzeitig Kanton der Schweiz und preussisches Fürstentum.
Dabei blieb es bis zur Gründung des Kantons Jura 1979, und auch dieser Konflikt begann mit dem Wiener Kongress. Er hatte den katholischen, französischsprachigen Jura – bis dahin Teil des Fürstbistums Basel – dem reformierten, deutschsprachigen Kanton Bern zugesprochen, als Ersatz für die Untertanengebiete im Aargau und in der Waadt. Dieses «Geschenk» bereitet den Bernern bis heute Bauchweh.