Es war im letzten Herbst, da war Viktorija Golubic am Tiefpunkt angelangt. Sie hatte bei den US Open und bei den French Open zweimal in der ersten Runde der Qualifikation gegen schlechter klassierte Gegnerinnen verloren und dazwischen mit wenig Erfolg zwei kleinere Turniere in Frankreich bestritten. Das sind nicht die Ansprüche der Gstaad-Siegerin von 2016, die einmal die Nummer 51 der Welt gewesen war. Also zog sie die Notbremse: «Ich brauchte einen Neustart, und musste wieder dieses Feuer spüren.»
Anfang Jahr lag Golubic in der Weltrangliste auf dem 138. Rang, dann erreichte sie in Lyon und Monterrey den Final und in der Woche vor Wimbledon setzte sie sich im vierten Anlauf erstmals gegen Landsfrau Belinda Bencic durch, in deren Schatten sie in den letzten Jahren gestanden war. In Wimbledon gewann sie in der ersten Runde mit 11:9 im dritten Satz gegen die Gesetzte Veronika Kudermetova. Gegen Danielle Collins, Madison Brengle und nun beim 7:6 (7:3), 6:3 gegen Madison Keys (WTA 27) gegen die dritte Amerikanerin in Folge gab sie keinen einzigen Satz mehr ab und steht erstmals in den Viertelfinals eines Grand-Slam-Turniers.
Einen Schlüsselmoment kann Golubic nicht benennen. Sie sagt: «Ich fühlte einfach von Woche zu Woche, dass ich besser werde, dass die Puzzlesteine meines Spiels immer besser ineinander greifen.» Noch nie habe sie so viel Klarheit verspürt wie in den letzten Wochen. Sie sagt:
Im Coronajahr 2020 hatte Golubic immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen, aber auch mit fehlender Motivation. Die grössten Stützen damals waren ihre ältere Schwester Natalija, die sie oft an Turniere begleitet, und ihr Trainer Dominik Utzinger. Der 58-jährige Basler gehörte in den 1980er-Jahren zu den besten Schweizer Tennisspielern, belegte in der Einzel-Weltrangliste einmal Position 288 und erreichte bei den Australian Open im gemischten Doppel die Halbfinals. Danach lebte er teilweise in Thailand, wo er eine Tennis-Akademie betreibt, und wo sich Golubic seit 2017 immer wieder auf Turniere in Australien und Asien vorbereitete.
Inzwischen ist Utzinger im Hauptamt Golubics Trainer. Sie sagt: «Er hat eine positive, aufbauende Art und gibt mir eine extreme Ruhe in diesem Tour-Leben, in dem man sich schnell verlieren kann.» Unbestritten ist auch die Fachkompetenz. «Dominik verfügt über ein extrem breites Wissen, taktisch, mental, technisch. Das habe ich immer in einem Coach gesucht: dass ich weiter lernen kann.»
Sich verbessern, sich weiterentwickeln – das sind Eigenschaften, die sich Golubic auch zuschreibt. Sie begann erst im Alter von 5 Jahren mit dem Tennis und galt nicht als herausragendes Talent. Bis im Alter von 11 Jahren spielte sie Vorhand und Rückhand mit beiden Händen. «Als ich umstellte, spielte ich ein halbes Jahr keinen Ball mehr übers Netz. Doch es war ein Prozess, der sich ausgezahlt hat.»
Es ist eine Episode, die sinnbildlich für die Karriere Golubics steht. Erst mit 23 stiess sie erstmals in die Top 100 der Weltrangliste vor. 2016 gewann sie in Gstaad ihren ersten Titel. Nun steht sie in Wimbledon als erste Schweizerin seit Timea Bacsinszky 2015 in den Viertelfinals. Sie sagt: «Das war immer mein Traum. Ich wusste, dass er in Erfüllung gehen kann. Nun ist alles möglich.» Auch der Turniersieg.
In den Viertelfinals vom Dienstag trifft Golubic auf die Tschechin Karolina Pliskova. Die 29-Jährige führte während acht Wochen die Weltrangliste an und stand 2016 im Final der US Open. Derzeit wird die 1,86 Meter grosse Pliskova nur noch auf dem 13. Rang der Weltrangliste geführt. Golubic und Pliskova treffen zum zweiten Mal aufeinander. Das erste Duell konnte die Schweizerin 2016 im Rahmen des Fed-Cup-Halbfinals in Luzern für sich entscheiden. Das war noch bevor die Puzzlesteine perfekt passten.