Als der britische Premierminister Tony Blair den Schotten 1999 eine begrenzte Selbstverwaltung mit eigenem Parlament und Regierung ermöglichte, wollte er den Befürwortern einer Unabhängigkeit des nördlichen Landesteils das Wasser abgraben. Erreicht hat der Labour-Politiker das Gegenteil: Ein unabhängiges Schottland wird immer wahrscheinlicher.
Eine erste Abstimmung hatten die Befürworter der «Scottish Independence» 2014 mit 45 zu 55 Prozent verloren. Nun will die seit 2007 in Edinburgh regierende Scottish National Party (SNP) einen neuen Anlauf nehmen, falls sie bei der Parlamentswahl am Donnerstag die absolute Mehrheit erobert. Zuletzt war sie auf die Unterstützung der Grünen angewiesen.
Die Umfragen ergeben kein klares Bild, doch es scheint möglich, dass die Nationalisten im 129-köpfigen Regionalparlament künftig allein regieren werden. «Wenn die Pro-Unabhängigkeits-Parteien so gut abschneiden wie erwartet, wird es schwer sein, einem weiteren Referendum zu widerstehen», kommentierte die «Sunday Times».
Noch vor wenigen Monaten sah es nicht besonders gut aus für die SNP. Regierungschefin Nicola Sturgeon wurde beschuldigt, das Parlament belogen zu haben. Dabei ging es um Vorwürfe gegen ihren Vorgänger Alex Salmond wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung. Ein unabhängiges Rechtsgutachten entlastete Sturgeon schliesslich.
Ihr Verhältnis zu Salmond aber ist hoffnungslos zerrüttet. Der frühere Regierungschef gründete die Alba Party – nach der gälischen Bezeichnung für Schottland –, die einen kompromisslosen Unabhängigkeitskurs propagiert und damit die SNP konkurrenziert. Deren Regierungsbilanz in Bereichen wie Bildung und Gesundheit wird zudem hart kritisiert.
Unter dem Skandal und der Spaltung litt die Zustimmung zur Unabhängigkeit. Zuletzt aber waren die Befürworter wieder im Aufwind. Dafür sorgt auch der Ärger über den Brexit, den die Schotten bei der Abstimmung 2016 klar abgelehnt hatten. Jetzt leiden nicht zuletzt ihre Fischer unter den Zollformalitäten, die für den Export in den EU benötigt werden.
Selbst Kritiker attestieren Nicola Sturgeon zudem, dass sie in der Corona-Pandemie umsichtig agiert hatte. Damit hob sie sich ab vom chaotischen Pandemie-Management von Premierminister Boris Johnson. Obwohl er ein erfolgreiches Impfprogramm vorweisen kann, ist der konservative Regierungschef in Schottland extrem unbeliebt.
Als erster Premierminister überhaupt seit Beginn der Selbstverwaltung hat Johnson laut der BBC keinen einzigen Wahlkampfauftritt in Schottland absolviert. Dafür war er in Wales unterwegs, wo am Donnerstag ebenfalls gewählt wird und die Unabhängigkeitspartei Plaid Cymru Aufwind verspürt. Der Zusammenhalt des gesamten Königreichs steht auf dem Spiel.
Boris Johnson wirkt angesichts dieser separatistischen Strömungen überfordert. «Bis jetzt sieht die Antwort der Regierung auf die Unabhängigkeitsgefahr dürftig aus», kritisierte die ihm ideologisch nahestehende «Sunday Times». Ausser einem kategorischen Nein zu einer erneuten Abstimmung, genannt Indyref2, ist dem Premier wenig eingefallen.
Sein Vorvorgänger David Cameron hatte das Referendum 2014 zugelassen und damit anders als beim Brexit richtig gepokert. Denn es gibt durchaus Gründe, die gegen eine schottische Unabhängigkeit sprechen. Wirtschaftlich ist der Nordteil des Königreichs schwach aufgestellt. Die Öl- und Gasreserven in der Nordsee gehen irgendwann zur Neige.
Schottland hängt finanziell am Tropf der Londoner Zentralregierung, was in England umgekehrt für zunehmende antischottische Ressentiments sorgt. Eine Trennung dürfte ein schwieriger Prozess werden mit vielen offenen Fragen. Zum Beispiel die Währung: Nicola Sturgeon erklärte im Wahlkampf, sie wolle «so lange wie nötig» am Pfund festhalten.
Die Queen soll Staatsoberhaupt bleiben. Weil aber die Nationalisten unbedingt zurück in die EU wollen, würde eine harte Grenze entstehen, wo heute keine existiert. Das könnte manche potenzielle Separatisten abschrecken. Unklar ist zudem, was geschehen wird, wenn Boris Johnson ein Referendum auch nach einem klaren SNP-Wahlsieg ablehnen sollte.
In der letzten Fernsehdebatte der Spitzenkandidaten behauptete der schottische Tory-Chef Douglas Ross, Nicola Sturgeon wolle eine «illegale» Abstimmung nach katalanischem Vorbild durchführen. Die Regierungschefin verneinte dies vehement. Sie scheint laut der BBC vielmehr entschlossen, ein Indyref2 notfalls auf gerichtlichem Weg zu erkämpfen.
Spötter nannten Boris Johnson bei seinem Amtsantritt vor bald zwei Jahren «den letzten Premierminister des Vereinigten Königreichs». Denn nicht nur in Schottland und Wales gärt es. Auch in Nordirland sind immer mehr Menschen genau 100 Jahre nach der Abspaltung vom Rest der Insel offen für eine Vereinigung mit der Republik Irland.
«Jeder sollte besorgt sein über das, was in Schottland und Nordirland passiert», meinte die «Sunday Times». «Schottland scheint auf dem Weg zu einer weiteren schädlichen Abstimmung über die Unabhängigkeit zu sein, während die Politik in Nordirland gefährlich instabil aussieht. Die Union ist in Gefahr und braucht dringend eine einigende Führung.»
Ob der Luftibus Johnson sie liefern kann, bezweifeln immer mehr Menschen. Und das nicht nur wegen seiner aktuellen Affären wie jene um die Luxus-Renovation seiner Amtswohnung in London, die er angeblich durch einen Parteispender finanzieren liess.