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Interview

Zürcher Politikerin als Wahlbeobachterin in der Türkei

Turkey's President Recep Tayyip Erdogan, accompanied by his wife Emine waves to supporters of his ruling Justice and Development Party (AKP) in Ankara, Turkey, early Monday, June 25, 2018. Erdoga ...
Bild: AP/POOL Presidency Press Service
Interview

Zürcher Politikerin in der Türkei: «Polizei hat uns in kein einziges Wahllokal gelassen»

Nach dem erneuten Wahlsieg Recep Tayyip Erdogans brechen noch einmal düsterere Zeiten für die Opposition an, ist Ezgi Akyol überzeugt. Die Schweizerin mit kurdischen Wurzeln sitzt für die Alternative Liste im Zürcher Gemeinderat und war als Wahlbeobachterin in der Türkei unterwegs.
25.06.2018, 18:0526.06.2018, 07:11
William Stern
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Bild: Gemeinderat Stadt Zürich
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Ezgi Akyol sitzt für die Alternative Liste im Gemeinderat der Stadt Zürich. Sie war als Wahlbeobachterin im Südosten der Türkei unterwegs.  

Frau Akyol, Sie waren als unabhängige Wahlbeobachterin im Südosten der Türkei, im kurdischen Mus. Wie haben Sie den Abstimmungssonntag erlebt?
Ezgi Akyol: Die unglaubliche hohe Militärpräsenz war erschreckend. Leider ist das im Südosten mittlerweile Alltag. Die Wahllokale waren ja in den Schulen untergebracht, auf jedem Schulhof hatte es mindestens ein gepanzertes Fahrzeug. Wir haben gehört, dass vereinzelt auch Uniformierte in den Wahllokalen selber drin waren.

Das wäre ein klarer Verstoss gegen das Prinzip der freien, geheimen und unabhängigen Wahl.
Ja. viele Leute haben auch gesagt, dass sie eingeschüchtert waren von der hohen Militärpräsenz. Kommt hinzu, dass gerade in den Kurdengebieten Bürger zum Teil 25 Kilometer laufen mussten, um ihre Stimme abzugeben. Für diese Leute war der Gang an die Urne schon eine Art Widerstand.

Wahlsieger Recep Tayyip Erdogan hingegen bezeichnete die Wahl in einer Rede als «Fest für die Demokratie».
Das ist ein Hohn. Nur schon die Tatsache, dass die Wahlen während des Ausnahmezustands stattfanden, zeigt die ungenügende demokratische Grundlage dieser Wahl. Sie war ganz klar nicht fair und frei.

Konnten Sie die Urnengänge auch persönlich verfolgen?
Nein, unsere Gruppe wurde in kein einziges Wahllokal gelassen. Wir haben zum Ausdruck gebracht, dass wir nicht zur OSZE-Wahlbeobachtungsteam gehören, darum haben sie uns nicht reingelassen. Eine andere Gruppe hatte mehr Glück. Dass wir nicht reingelassen wurden, war zwar kein Verstoss, aber eine klare Einschüchterung. Wir haben zudem von etlichen Unregelmässigkeiten in anderen Gebieten gehört.

Auch der Wahlkampf war von zahlreichen Unstimmigkeiten geprägt ...
Die AKP nahm eine unglaublich dominante Stellung ein in diesem Wahlkampf. Im Fernsehen, in den Zeitungen, auf Plakaten: Erdogan war praktisch überall zu sehen. Im Gegensatz dazu war der Wahlkampf der linken HDP de facto nicht vorhanden. Parteimitglieder und Wahlkämpfer wurden willkürlich verhaftet, Veranstaltungen der HDP durch Polizisten oder AKP-Anhänger aufgelöst oder gestört. Der Spitzenkandidat der HDP, Selahattin Demirtas, führte einen Wahlkampf vom Gefängnis aus. In den Medien war die Partei praktisch inexistent, fast nur auf Social Media konnte die HDP Wahlkampf betreiben.

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Trotzdem herrschte gerade unter Gegnern der AKP eine Aufbruchstimmung im Vorfeld der Wahlen. Man rechnete fest mit einem zweiten Wahlgang. Ist die Opposition nach diesem Rückschlag zermürbt?
Dass die grösste Oppositionspartei CHP, die ja das erste Mal seit Langem wieder einen grossen und motivierten Wahlkampf geführt hat, auf Anhieb 30 Prozent macht, ist eine Überraschung. Ich glaube deshalb nicht, dass der Widerstand versandet war. Im Gegenteil. Aus strategischer Sicht war es natürlich ein grosser Fehler, die HDP aus dem Bündnis der Oppositionsparteien auszuschliessen. Wenn man glaubhaft Oppositionspolitik betreiben will, muss man die HDP zwingend miteinbeziehen und eine gemeinsame Front bilden.

Woher kommen die Berührungsängste zwischen der sozialdemokratischen CHP und der linken, pro-kurdischen HDP?
Die Kurdenfrage ist entscheidend, das ist historisch bedingt. Die kemalistische CHP führte, als sie selber an der Macht war, eine äusserst harte Politik gegenüber den Kurden. Diese Wunden sind noch nicht verheilt. Und die CHP-Wähler befürworten in der Kurdenfrage immer noch eine Politik der harten Hand.

Erdogan versprach, den Ausnahmezustand nach einem Wahlsieg aufzuheben. Wird er nun gemässigter auftreten?
Das sieht man hier anders. Erdogan hielt gestern eine Rede, in der er ein noch härteres Vorgehen im Kampf gegen den Terror ankündigte. Die Menschen hier befürchten noch stärkere Rerpressionen, gerade im Südosten. Und den Ausnahmezustand kann Erdogan problemlos aufheben – jetzt, wo er ihn dank des Wechsels zum Präsidialsystem praktisch legalisiert hat.

Mit dem Bündnis mit der rechtsextremen MHP hat Erdogans AKP die absolute Mehrheit im Parlament. Wird sich der Einfluss des Juniorpartners bemerkbar machen?
Ja, ich befürchte, dass die Politik der Regierung in Zukunft noch nationalistischer und repressiver wird. Die MHP wird Erdogans AKP von rechtsaussen unter Druck setzen. Das ist kein gutes Zeichen, weder für die Kurden noch für die gemässigten, progressiven Schichten. Das Land ist offensichtlich gespalten, man kann aber nicht wegreden, dass es eine grosse Gruppe von Bürgern gibt, die mit der Politik der Regierung Erdogan zufrieden ist.

Erdogan feiert mit seinen Anhängern den Wahlsieg

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Erdogan feiert mit seinen Anhängern den Wahlsieg
Die Auszählung der Stimmen in der Türkei ist noch nicht beendet, da erklärt Präsident Erdogan sich schon zum Sieger. Er spricht von einem «Fest der Demokratie».
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Wo verlaufen denn die Bruchlinien innerhalb der Gesellschaft?
Sie lassen sich ziemlich deutlich geografisch festmachen. Die AKP war vor allem im Zentrum des Landes erfolgreich, die CHP war im Westen des Landes sowie in den grossen Städten Istanbul und Ankara sehr stark, während im Südosten die kurdische HDP dominierte.

Turkey's President Recep Tayyip Erdogan, waves to supporters of his ruling Justice and Development Party (AKP) in Ankara, Turkey, early Monday, June 25, 2018. Erdogan won Turkey's landmark e ...
Bild: AP/POOL Presidency Press Service

Was bedeutet der Wahlsieg für das Verhältnis Erdogans zum Westen?
Ich würde mir wünschen, dass sich die westlichen Staats- und Regierungschefs in einem klareren, unmissverständlicheren Ton gegenüber Erdogan äussern, dass sich Europa klarer positioniert etwa in der Kurdenfrage. Aber ich fürchte, dass sich Europa mit Kritik weiter zurückhält.

Wieso?
Aufgrund des sogenannten Flüchtlingsdeals mit der Türkei, weil das Land Nato-Mitglied ist und weil die wirtschaftlichen Interessen der europäischen Staaten überwiegen.

Die türkische Lira ist in letzter Zeit regelrecht abgestürzt, die Wirtschaft stottert seit Monaten: Vom einstigen volkswirtschaftlichen Genie Erdogans ist nicht mehr viel übriggeblieben.
Man hörte es in den letzten Tagen ein paar Mal: das Einzige, was die AKP jetzt noch stürzen könnte, ist die Wirtschaft. Die Preise für Grundnahrungsmittel, Kartoffeln und Zwiebeln sind extrem gestiegen, auch der Benzinpreis ist in die Höhe geschossen, das spürt die Bevölkerung. Wir hofften, dass sich die wirtschaftliche Baisse in den Wahlen widerspiegelte, aber es hat die Leute offenbar eher dazu bewogen, beim Bisherigen und Bewährten zu bleiben. Man traute Erdogan nun einmal mehr Stabilität zu als den Herausforderern.

Erdogans Arm reicht weit über die türkischen Grenzen. In der Schweiz erhielten Wahlberechtigte Propaganda-Post von Erdogan, die AKP kündigte an, Schulen in der Schweiz gründen zu wollen und in Deutschland ist Erdogans Partei einer der grössten Financier von Moscheen. Werden diese Einflussnahmeversuche jetzt nach den Wahlen ab- oder sogar noch zunehmen?
Ich glaube nicht, dass das abnehmen wird. Die Verfolgung von Gülen-Anhängern und politisch Andersdenkenden im Ausland, die Förderung nationalistischer und konservativ-islamischer Ideologien – das dürfte sogar noch stärker werden. Die Wahlkampfveranstaltungen werden natürlich nicht mehr stattfinden. 

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6 Kommentare
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Alnothur
26.06.2018 13:37registriert April 2014
"Wir haben zum Ausdruck gebracht, dass wir nicht zur OSZE-Wahlbeobachtungsteam gehören, darum haben sie uns nicht reingelassen."

Ok, das ist ein wirklich schwaches Argument... Da lief so vieles falsch und wurde so viel manipuliert - und sie prangert an, dass KEINE TOURIS INS WAHLLOKAL GELASSEN WURDEN?
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