Es war die Frauenärztin, die Andrea Keller beruhigte. Diesen Knoten, den sie in ihrer linken Brust spürte, das sei eine geschwollene Drüse. Etwas hormonell Bedingtes. Entweder sie sei schwanger oder bekomme ihre Periode. Denn: Mit 27 Jahren hat man keinen Brustkrebs.
Das waren die Worte der Ärztin. Sie riet der jungen Frau zu einem Schwangerschaftstest. Zwei Streifen leuchteten auf – positiv. Fortan drehte sich alles um das neue Leben, das im Bauch von Andrea Keller grösser wurde. Doch mit jeder Schwangerschaftswoche wuchs auch der Knoten in ihrer Brust.
In der 29. Woche drängte sie ihr Mann: Sprich die Ärztin nochmals an, lass dich untersuchen. Diesmal reagierte diese anders: «Als sie den Knoten ertastete, wurde sie panisch», sagt Keller. Sie sitzt am Holztisch ihres Einfamilienhauses in Rupperswil. Hinter ihr an der Wand zeigen Fotografien lachende Kinder. Dass sie ihre heute zehnjährige Tochter und ihren Pflegesohn aufwachsen sieht, ist nicht selbstverständlich.
Der Ultraschall, den die Frauenärztin damals von Kellers Brust machte, beruhigte nicht. Und als die Laborwerte der Biopsie auf dem Schreibtisch der Ärztin lagen, rief sie Keller am Arbeitsplatz an: Sofort in die Praxis kommen; am besten gleich frei machen. «Auf dem Weg zu ihr dachte ich: So etwas passiert anderen, aber doch nicht mir», sagt die heute 37-Jährige.
Sie ist kein Einzelfall. Zwar erkranken deutlich mehr ältere Frauen an Brustkrebs, doch es trifft auch jüngere. Für sie organisiert das Netzwerk Europa Donna Schweiz Stammtische. Dessen Präsidentin Donatella Corbat sagt: «Bei Frauen in ihren 20ern oder 30ern stellen sich andere Fragen als bei älteren Patientinnen.» Viele würden ihre berufliche Karriere noch aufbauen, hätten kleine Kinder oder wünschten sich welche.
Was an den Stammtischen auch klar wurde: Bei den meisten nahmen die Ärzte den Verdacht auf Brustkrebs nicht ernst. «In der Gruppe sind 30 junge Frauen. Nur bei zwei von ihnen wurde sofort reagiert. Einige wurden gar heimgeschickt mit Bemerkungen wie, sie sollten nicht gleich ans Schlimmste denken», kritisiert Corbat. Dabei ist bekannt: Je früher der Tumor erkannt wird, umso höher die Heilungschancen.
Der Gynäkologe Nik Hauser leitet das Brustzentrum der Hirslanden Klinik Aarau und der Andreasklinik Cham Zug. Auch er kennt die Problematik: «Wir sensibilisieren Frauen- und Hausärzte, damit möglichst keine wertvolle Zeit verloren geht.» Bis vor etwa zehn Jahren galt Brustkrebs als Krankheit, die fast nur über 50-Jährige traf.
Heute sei das anders, sagt Hauser. «Deshalb gehört jede Veränderung an einer Brust abgeklärt. Unabhängig davon, wie alt die Patientin ist.» Noch rätsle die Fachwelt, weshalb Brustkrebs vermehrt auch bei jüngeren Frauen auftrete. «Bislang gibt es nur Vermutungen, etwa eine stärkere Belastung durch Hormone oder Umwelteinflüsse», sagt Hauser.
Dass eine Frau zum Zeitpunkt der Diagnose schwanger ist, kommt selten vor. Was das für eine zusätzliche Belastung bringt, weiss Andrea Keller. Ihr rieten die Ärzte zu einer raschen Operation. Zu gross, zu aggressiv sei der Tumor. Der Termin stand. Doch statt ins Spital einzutreten, rief Keller an – und sagte ab. «Ich bekam Panik. Was, wenn es Komplikationen gibt und ein Notfallkaiserschnitt nötig wäre? Dieser Gedanke liess mich nicht mehr los.»
Alles sei «blitzschnell» passiert. Zeit, um die Diagnose zu erfassen, gab es nicht. «Es kam mir vor, als ob ich in einen TGV gepackt würde. Alle ausser mir bestimmten Tempo und Richtung», erinnert sich Keller. Sie fühlte sich fremdbestimmt und überfordert.
Nach der abgesagten Operation drängten die Ärzte zu einer Chemotherapie. Dem Kind geschehe nichts, erklärten sie Keller. Das zeigten Studien. Keller überzeugte es nicht. Sie lehnte ab. «Alles, was ich im Spital hörte, war: ‹Sie müssen dies tun, Sie müssen das tun.› Weshalb mir das Vertrauen fehlte, hinterfragte niemand.»
Als Gynäkologe steht Nik Hauser auf der anderen Seite. Fehlt in einem routinierten Betrieb das Einfühlungsvermögen? Er verneint: «Wir versuchen, die Diagnose und Behandlung genau zu erklären.» Jede Patientin sei aber mit der Situation überfordert.
«Die Belastung ist massiv. Es ist unmöglich, innert kurzer Zeit das ganze Ausmass begreifen zu können.» Deshalb gäbe es heute eine psychoonkologische Mitbetreuung und sogenannte «Breast Care Nurses». Sie begleiten Patientinnen an deren Arzttermine und beantworten ihre Fragen rund um die Bewältigung des Alltags oder das Körperbild.
Diese Unterstützung gab es vor zehn Jahren noch nicht. Andrea Keller und ihr Mann beschlossen, eine Zweitmeinung einzuholen. Der Vorschlag dieser Ärztin schien ihnen plausibel: die Geburt in der 36. Woche einleiten und daraufhin gleich die Behandlung zu beginnen. So gebar Andrea Keller ihre Tochter in einer Julinacht 2008 um 1.30 Uhr. Am gleichen Tag um 15.30 Uhr entfernten Gynäkologen den Tumor.
Knapp drei Wochen später tröpfelte aus einem Infusionsbehälter die rot-orange Flüssigkeit der Chemotherapie in ihre Venen. Ihre kleine Tochter schlief im Kinderwagen neben ihr. «Sie war eine riesige Stütze. Es schien, als ob sie gespürt hätte, dass ich Ruhe brauchte.» Nach der Chemotherapie war Andrea Keller jeweils völlig erschöpft. «Dann lagen wir gemeinsam im Bett und schliefen stundenlang.»
Aus diesem ruhigen Baby wurde ein Mädchen, das im Haus von Kellers keck von den Fotos lacht. Sie und ein etwas jüngerer Knaben sind darauf omnipräsent. Verwandt sind die beiden nicht, doch Keller spricht «von meinen Kindern». Vielleicht, weil der Pflegesohn ihre bis dahin endlos scheinende Trauer durchbrach. Jene Trauer, nicht die grosse Familie mit vier Kindern zu haben, wie sie es sich gewünscht hatte.
Denn ihr Krebs wurde über weibliche Hormone gesteuert. Knapp ein Jahr nach der ersten Diagnose stellte sich heraus, dass nun in der rechten Brust ein bösartiger Tumor wütete. Als klar wurde, wie aggressiv dieser wiederum war, empfahlen die Ärzte, auch die zweite Brust zu amputieren, die Eierstöcke zu entfernen und als Folge die Menopause einzuleiten. Im Alter von 29 Jahren.
Es war der Moment, als Andrea Keller einbrach. «Die Diagnose Krebs konnte ich relativ rasch akzeptieren. Keine Kinder mehr bekommen zu können, begrub jedoch meine Pläne fürs Leben.» Nie hätte sie gedacht, was diese viel zu frühen Wechseljahre mit ihr machen würden. Beim Einkaufen begann sie zu weinen, wenn sich jemand nach ihr erkundigte.
Mit ihrer Tochter verliess sie nur noch das Haus, wenn sie die anderen Mütter über den Mittag zu Hause wusste. Das Glück der anderen ertrug sie nicht. Dass in ihrem Umfeld eine Frau nach der anderen schwanger wurde, riss ihre tiefe Wunde noch ein Stück weiter auf. «Heute schäme ich mich dafür. Doch damals gönnte ich niemandem eine Schwangerschaft», sagt Keller.
Heute bedeutet die Diagnose Brustkrebs nicht mehr, dass der Kinderwunsch in jedem Fall unerfüllt bleibt. «Es ist inzwischen möglich, nach einer Chemotherapie wieder schwanger zu werden», sagt Gynäkologe Nik Hauser. Seit einigen Jahren gäbe es die Möglichkeit, Teile eines Eierstocks zu entnehmen, einzufrieren und später wieder in den Körper der Patientinnen einzusetzen. «Wir betreuen Frauen, die in dieser Situation sind und durch den Einsatz dieser Methode Kinder bekamen», sagt Hauser.
Sarah (Name geändert) ist 31 Jahre alt und erhielt die Diagnose Brustkrebs vor einem Jahr. Sie entschied sich, Gewebe einfrieren zu lassen. Aktuell durchläuft sie die letzten Wochen der Antikörpertherapie. «Mein Kinderwunsch ist gross. Im Moment ist er zwar etwas in den Hintergrund gerückt, da die Krankheit sehr präsent ist», sagt sie.
Zuerst müsse sie gesund werden. Auch die Ärzte raten ihr, wegen der Therapien mindestens zwei Jahre mit einer Schwangerschaft abzuwarten. «Ob ich zu einem späteren Zeitpunkt das eingefrorene Gewebe brauche oder nicht, muss sich zeigen. Es ist aber eine grosse Erleichterung, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt», sagt sie.
Bei Andrea Keller konnte die Methode nicht angewandt werden. Eineinhalb Jahre lang nagte der Schmerz an ihr. Unerbittlich. Erst Antidepressiva schlugen ihn langsam in die Flucht. Und die Entscheidung, als Pflegefamilie ein zweijähriges Kind aus schwierigsten Verhältnissen aufzunehmen. «Durch ihn lernten wir, dass es im Leben manchmal Umwege braucht», sagt sie.
In ihrem Alltag seien die Krankheit und deren Folgen heute kaum mehr Thema. Sie spüre, dass sie nicht mehr gleich belastbar sei wie früher. Sie braucht mehr Auszeiten, verbringt viel Zeit im Garten und mit dem Hund im Wald. «Seit etwa vier Jahren kann ich aber wieder sagen: Es geht mir gut.»