Grosse Verkehrsprojekte sind in der Schweiz stets ein Marathon. Die Politik muss sich einigen, und wenn das geschafft ist, lauert meist schon die Volksabstimmung. Und dann sind da noch die vielen kleinen Hindernisse, etwa jene, mit der sich die Planer der Glattalbahn einst im Kanton Zürich herumschlagen mussten.
Es ging um nur einen Brückenpfeiler. Doch um herauszufinden, wo er in den Boden gerammt werden kann, waren gleich mehrere Sitzungen notwendig. Schliesslich mussten die Planer zuerst einmal in Erfahrung bringen, was sich alles schon im Boden verbirgt, welche Leitungen ihn durchziehen – und möglicherweise beschädigt werden könnten. Und das war gar nicht so einfach.
Die Geschichte aus dem Zürcher Glattal ist nur eine kleine, doch sie illustriert ein grosses Problem. Hunderttausende Kilometer Leitungen verlaufen durch den Schweizer Untergrund. Sie transportieren Wasser und Abwasser, versorgen das Land mit Gas, Strom und Internet, und wenn man sie alle neu bauen müsste, dann würde das – die betroffenen Strassen mit eingerechnet – 450 Milliarden Franken kosten.
Doch das Wissen darüber, wo diese Leitungen genau verlaufen, ist kreuz und quer im Land verteilt, und vielerorts hat niemand den Überblick. Die Schweiz ist stolz auf ihre Landkarten, und sie hat sonst immer für alles einen Plan. Doch im Untergrund ist sie blind, zumindest auf einem Auge.
Das will der Bund nun ändern. «Es ist an der Zeit, Wissen zu schaffen», sagt Christoph Käser von swisstopo, dem Bundesamt für Landestopografie. Nach jahrelanger Vorarbeit hat der Bund vor kurzem seine Pläne für ein nationales Leitungskataster in die Vernehmlassung gegeben. Das Ziel: eine «homogene, verlässliche und zeitgemässe» Dokumentation des Untergrunds.
Heute macht in der Schweiz nach guter alter Föderalismus-Manier jeder, was er will: Es gibt Gemeinden und Kantone, die sehr gut dokumentiert sind. Und dann gibt es jene – bei den Kantonen ist es rund die Hälfte –, die bis heute keine expliziten rechtlichen Bestimmungen für ein Leitungskataster kennen. Die Bandbreite reicht von der «Fötzelisammlung», wie es ein Experte formuliert, bis zur durchdigitalisierten Stadt Genf.
550 000 Kilometer lang ist das Netz, das die Schweiz im Untergrund durchzieht, mittlerweile – eine gewaltige Zahl, die für das rasante Wachstum des Landes steht. Die Leitungen gehören etwa grossen Firmen wie der SBB oder Swisscom. Doch die Mehrheit der 8000 sogenannten Werkeigentümer sind Gemeinden, Genossenschaften oder Korporationen, zum Beispiel im Wasserbereich.
Mit der Netzlänge ist in den letzten Jahren auch der Druck auf die Platzverhältnisse im Untergrund gestiegen – und das wird in Zukunft so bleiben, sagt Christoph Käser von swisstopo. Neue Infrastrukturen drängen in den Untergrund, Strassen- und Bahntunnels etwa, Glasfaserleitungen, dereinst vielleicht das unterirdische Gütertransportsystem Cargo sous terrain. Oder die Erdwärmesonden, die für die Energieversorgung immer wichtiger werden .
Es ist also an der Zeit, Ordnung zu schaffen. Dass die Schweiz ein Leitungskataster braucht, welches das ganze Land vermisst, ist denn auch unumstritten. Die Arbeitsgruppe, welche der Bund für die Vorarbeiten eingesetzt hat, hat einstimmig den Grundsatzentscheid getroffen, dass «der Status Quo keine Option ist».
Doch der Teufel liegt wie so oft im Detail. Und dort wird es kompliziert, weil etwa die Besitzer von Strom- oder Abwassernetzen so wenig wie möglich preisgeben wollen, da sie um die Sicherheit ihrer Leitungen fürchten. Auf der anderen Seite ist etwa die Baubranche für ihre Planungen an möglichst detaillierten Informationen interessiert.
Wenn heute die Bagger auffahren, dann kommt es immer mal wieder vor, dass sie ihre Schaufel nicht nur in den Boden rammen – sondern auch in eine Leitung. Das hat dann einen Stromausfall zur Folge oder einen Unterbruch der Wasserversorgung. Und verursacht, sagt Christoph Käser, jedes Jahr einen zweistelligen Millionenschaden, wobei die Dunkelziffer gross sei. Solche Schäden sollen dank dem Leitungskataster künftig vermieden werden. Dazu kommen die Einsparungen, die dank der einfacheren Planung winken.
Max Maurer ist Professor für Siedlungswasserwirtschaft an der ETH Zürich; er beschäftigt sich mit dem Wasser und dem Abwasser, das durch ein Leitungsnetz von 200 000 Kilometern fliesst. Maurer sagt, es brauche unbedingt ein Leitungskataster, «nur schon, damit die unbefriedigende Datenlage endlich besser wird».
Der Professor verspricht sich von einem nationalen System, dass die rund 3000 Wasserwerke ihre Daten einheitlicher – und damit sorgfältiger – erheben. «Diese Daten sind unglaublich wertvoll», sagt Maurer, «denn die Leitungen müssen immer wieder erneuert werden. Dieses Wissen aufzubauen, ist eine Investition in die Zukunft».
Für die nächste Sanierungsrunde der Wasserleitungen rechnet Maurer in den kommenden Jahren mit einem gewaltigen Investitionsbedarf von rund 130 Milliarden Franken. «Je mehr wir über die Leitungen wissen, desto besser», sagt er.
Der ETH-Professor findet, ein Leitungskataster sei gut, aber nur ein Anfang. «Was die Schweiz braucht, ist eine umfassende Untergrundplanung», sagt Maurer. Dieser Ansicht ist auch Andreas Flury. In Zürich kannte man ihn einst auch als «Mister Glattalbahn», und er hat später als Verwaltungsratspräsident auch die Limattalbahn, ein anderes grosses Verkehrsprojekt, mitgeprägt.
Flury sagt, er habe dabei festgestellt, dass im Untergrund Chaos herrsche. Heute sitzt Flury im Lenkungsgremium des «Fachkreises Nutzung des Untergrundes» und bearbeitet auch Bundesparlamentarier, damit das Thema Untergrund auf der politischen Agenda nach oben rückt. «Der Untergrund ist eine wertvolle Ressource, deren Nutzung Städte, Kantone und Bund viel besser planen müssen», sagt er.
Eigentlich wollte der Bund das Raumplanungsgesetz (RPG) um einen Artikel ergänzen, der diese Planungsaufgabe ausdrücklich erwähnt. Doch die entsprechende Revision ist im Parlament in akuter Absturzgefahr.
Es könnte also sein, dass es vorderhand beim Leitungskataster bleibt. Und auch bis dieses steht, wird noch viel Zeit vergehen. Christoph Käser vom Bundesamt für Landestopografie rechnet für den parlamentarischen Prozess und den Aufbau des Katasters mit zehn Jahren. (aargauerzeitung.ch)
Text-Zitat aus dem Artikel: "Auf der anderen Seite ist etwa die Braubranche für ihre Planungen an möglichst detaillierten Informationen interessiert." 😂😂🍻