Blogs
Yonnihof

Unchristliche Werte

Meine «unchristlichen» Werte

Bild: shutterstock
Yonnihof
Meine Moral gehört mir.
26.03.2016, 13:2226.03.2016, 14:49
Mehr «Blogs»

Seit kurzem schreibt Hugo Stamm für watson. Ich mag Hugo Stamm, nur schon unserer Herkunft wegen (Hopp Schafuuse!). Einig bin ich mit ihm bei weitem nicht immer, aber ich schätze seine Inputs und seine kritischen Fragen.  

Wenn man die Diskussionen zu seinen Artikeln liest, taucht dort eine regelrechte Kluft auf. «Religion gehört abgeschafft» vs. «Religionsbashing ist wohl das neue Sexy, hört endlich auf damit».  

In der Tat fällt mir auf, dass die anti-religiösen Stimmen ganz generell immer lauter werden. Gegen die Institutionen, aber auch gegen den Glauben selber. Erstere seien kriminell, Zweitere naiv. Da sind dann die radikalen Atheisten, die mit gleicher Vehemenz behaupten, nach dem Tod komme gar nichts, wie es zum Beispiel die Christen mit der Existenz eines Paradieses tun. Ich frage mich dann jeweils: Tun sie damit nicht dasselbe, was sie den Christen vorwerfen, nämlich eine Sicherheit vorzugaukeln, die sie letzten Endes unmöglich hundertprozentig haben können? Wäre es nicht logischer, den «Gospel of I don’t know» zu predigen?  

Anyway. Es soll in diesem Text nicht um diese Grundsatzfragen gehen – dafür haben wir ja Herrn Stamm.  

Ich glaube nicht an Gott, ich bin in keiner Kirche und ich wurde nicht getauft. Ich bin aber auch nicht grundsätzlich «gegen Religionen» – ich kann anerkennen, dass die Kirchen vielen Menschen auf der Welt helfen und ich finde, dass man das nicht vergessen sollte. Auf der anderen Seite lässt sich die zerstörerische Wirkung, die sie und gewisse ihrer Ableger in der Geschichte und heute auf die Menschheit hatten und haben, in meinen Augen nicht verleugnen. So viel dazu.  

Dieser Text aber soll um «christliche Werte» gehen.  

Es passiert mir nämlich immer wieder, dass ich, nachdem ich Texte über die Liebe oder die Nähe zwischen Menschen schreibe oder wenn ich Spendenaktionen starte, Messages oder sonstige Rückmeldungen bekomme, es sei schön, dass ich das christliche Prinzip der Nächstenliebe weitergäbe. Gestern passierte mir das gar Face to Face mit einem Herrn, der sagte, er finde es schön, dass junge Menschen, auch wenn sie nicht glaubten, christliche Werte leben würden.  

Nun bin ich mir sicher, dass der Mann das gut meinte, es ein Kompliment war und ich konnte es auch als solches annehmen.  

Trotzdem ging mir das nachher nicht mehr aus dem Kopf und irgendwann wurde mir klar, weshalb: Die Nächstenliebe gehört nicht dem Christentum.  

Ich finde es schwierig, wenn mir vermittelt wird, ich hätte mir ein moralisches Grundprinzip meines eigenen Lebens von einer Gemeinschaft geborgt, zu der ich nicht gehöre und mit der ich in vielerlei Hinsicht nicht einig bin.  

Moralisches Denken beruht nicht auf christlichen Schriften – ich denke, wir kommen auch ohne Bibel darauf, dass wir uns nicht gegenseitig umbringen, bestehlen und betrügen sollten. Ich finde es stossend, wenn gläubige Christen es erstaunlich finden, dass jemand ohne ihren eigenen Hintergrund ein von Moral bestimmtes Leben führen kann.  

Dazu kommt, dass zwar gerade die Nächstenliebe ein christlicher Wert sein soll, diese dann aber zum Beispiel bei Homosexuellen ein jähes Ende findet. Meine nicht. Ist Nächstenliebe also eher ein nichtchristlicher Wert?  

Wichtig: Ich kenne viele Gläubige, die solche Ansprüche nicht erheben, die ihr Leben gut und beherzt leben und mit ihrer Toleranz über das hinausgehen, was in gewissen Kirchenschiffen gepredigt wird – dazu gehören auch MitarbeiterInnen der Kirche selbst.  

Ich lasse jedem Christen seinen Glauben, auch wenn ich nicht unbedingt damit einverstanden bin, solange er niemandem schadet und nicht seinen Stempel aufs Gute in mir drückt. Dann werde ich etwas hässig.  

Eines ist klar: Meine Nächstenliebe kommt nicht von der Kirche und wird es auch nie tun. Sie ist kein christlicher Wert, sondern ein menschlicher. Sie ist Ausdruck meiner inneren Überzeugungen und meiner Moral, die unabhängig von Dogmen ist. Es macht in meinen Augen viel eher Sinn, die Kirche als Schule solcher Prinzipien zu betrachten denn als deren Ursprung.  

Ich weiss nicht, ob es Gott gibt und falls ja, in welcher Form. Bisher habe ich ihn oder sie oder es nicht entdeckt. Oder nicht verstanden. Ich glaube, das muss ich auch nicht. Ich will trotzdem versuchen, mein Leben so gut und voll wie möglich zu leben – weil ich zwar nicht an Gott glaube, aber an Frieden.  

Vielleicht ist «Gott» ja gerade das: die Vereinigung des Friedens in und zwischen uns – und wenn er das ist, dann gehört er keiner einzigen der Institutionen, die vorgeben, er tue es.

Bild
Yonni Meyer
Yonni Meyer (34) ist Psychologin und schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt. 

Pony M. auf Facebook

Yonni Meyer online

Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!

  • watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
  • Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
  • Blick: 3 von 5 Sternchen
  • 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen

Du willst nur das Beste? Voilà:

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
122 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Angelo C.
27.03.2016 12:54registriert Oktober 2014
Nicht übel, der Artikel....

Jedenfalls nicht gar so einseitig und tendenziös, wie sich Hugo Stamm seit Jahren gnadenlos und gegen ALLE Glaubensgemeinschaften zu äussern beliebt. Meines Erachtens soll Jede und Jeder glauben was sie oder er will, solange er dabei keine extremistischen Tendenzen zeigt, Andere schädigt oder krampfhaft bemüht ist, nervig zu missionieren.

Persönlich lehne ich alle Weltreligionen ab, wenn auch da und dort vereinzelt eine Trouvaille darunter sein mag.
Mir ist sog. offene Spiritualität und ein Glaube an einen unetikettierten und unbekannten Gott bedeutend lieber.
538
Melden
Zum Kommentar
avatar
TanookiStormtrooper
26.03.2016 19:02registriert August 2015
Nicht getauft? Diddeli-Duddeli! Das kann doch nicht sein... Wo ist mein Notfall-Tauf-Set?
Meine «unchristlichen» Werte
Nicht getauft? Diddeli-Duddeli! Das kann doch nicht sein... Wo ist mein Notfall-Tauf-Set?
475
Melden
Zum Kommentar
avatar
zoobee1980
26.03.2016 14:50registriert Oktober 2014
Ich betrachte mich als Agnostiker. Und ich frage mich - besonders nach dem Lesen dieses Artikels, aber auch sonst - wie stark "meine" Werte, "meine" Moral geprägt ist von meinen Eltern, meinen Freunden, meinen sozialen Interaktionen allgemein, und wie stark diese wiederum geprägt sind von einer westeuropäischen Kultur, in welcher die Trennung von (christlicher) Kirche und Staat erst einige Generationen alt ist.
Aber vielleicht sollte ich die Antwort/en auf diese Fragr nicht zu sehr ins Zentrum stellen. Vielleicht liegt der zentrale Punkt im Stellen der Frage. Immer und immer wieder. :-)
413
Melden
Zum Kommentar
122
9 Wanderungen und Orte, welche dich im Frühling in ihren Bann ziehen
Im Frühling blühen Bäume und Blumen in den wunderschönsten Farben. Damit du das Spektakel aber in vollen Zügen geniessen kannst, musst du zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein. Wir geben 9 Tipps, wie du faszinierenden Blütenzauber erlebst.

Der Blütenzauber in der Schweiz ist traumhaft – keine Frage. Aber Achtung! Du musst auch den richtigen Zeitpunkt erwischen. Da die «Bluescht» vom Wetter abhängig ist, kann der genaue Zeitpunkt nicht vorhergesagt werden.

Zur Story