Zwei Tage nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan befinden sich noch immer 28 Schweizerinnen und Schweizer im Land. Daneben gibt es 38 afghanische Mitarbeitende der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und ihre Angehörigen, insgesamt rund 230 Personen. Auch sie wollen Afghanistan so schnell wie möglich verlassen.
Doch die Frage ist: wie? In den letzten zwei Tagen versuchten tausende Menschen panisch, das Land zu verlassen. In ihrer Verzweiflung stürmten sie am Hamid-Karzai-Flughafen in der Hauptstadt Kabul die Startbahnen und sprangen auf rollende Flugzeuge auf. Der Flughafen wird derzeit noch von tausenden US-Soldaten abgesichert, um die Evakuierung von ausländischem Personal und weiteren Personen zu ermöglichen.
Doch inzwischen haben die Taliban einen äusseren Ring um den Flughafen gezogen und kontrollieren alle auf dem Weg dahin. Das berichtet Marcus Grotian, ein ehemaliger Soldat der deutschen Bundeswehr, gegenüber ZDF. Er ist Gründer des Patenschaftsnetzwerkes «Afghanische Ortskräfte». Dieses setzt sich für das afghanische Personal ein, das seit Jahren mit deutschen Sicherheitskräften vor Ort zusammenarbeitet. Grotian ist in engem Kontakt mit Afghanen vor Ort und befürchtet, es sei inzwischen unrealistisch , dass diese noch zum Flughafen gelangen können.
Der Weg zum Flughafen stelle tatsächlich ein Problem dar, sagt Hans-Peter Lenz, Chef des Krisenmanagement-Zentrums im Staatssekretariat des EDA und derzeitiger Leiter der Krisenzelle Afghanistan. Man stehe mit verschiedenen Partnerorganisationen und lokalen Mitarbeitenden im Kontakt, um die Schwierigkeiten besser einordnen zu können. Doch es gebe kaum noch Staaten, deren Soldaten noch Menschen an den Flughafen eskortieren. «Die wenigen, von denen wir Kenntnis haben, konzentrieren sich auf die eigenen Staatsangehörigen und deren lokale Mitarbeitende.» Man müsse deshalb davon ausgehen, dass sich jeder selbstständig zum Flughafen durchschlagen müsse, so Lenz.
Einmal bis dahin geschafft, stelle sich die nächste Herausforderung: Vor dem Flughafen habe sich inzwischen eine grosse Ansammlung von Menschen gebildet, die das Land verlassen wollen. «Es herrscht ein Chaos, die Zugänge sind bisweilen blockiert», sagt Lenz. Die dritte Hürde sei, in den militärischen Teil des Flughafens zu kommen.
«Um die 28 verbliebenen Schweizerinnen und Schweizer mache ich mir weniger Sorgen», sagt Thomas Fisler. Er arbeitete 22 Jahre für die Deza und leitete 2019 deren Kooperationsbüro in Kabul. Heute ist er pensioniert. Die Ausländer seien nicht das primäre Ziel der Taliban und könnten die Checkpoints zum Flughafen eher passieren. Fisler geht davon aus, dass die Rückführungsflüge in den kommenden Tagen fortgesetzt werden und die Schweizerinnen und Schweizer dann ausreisen können.
Hingegen für die Lokalmitarbeitenden sei die grosse Frage, ob und wie sie unbemerkt zum Flughafen gelangen können. Falls das nicht klappe, sei eine zweite Möglichkeit, sich in die Green Zone zu retten. In diesem bewachten und von zehn Meter hohen Mauern umgebenen Quartier in Kabul befinden sich die meisten ausländischen Botschaften. Von der Green Zone aus könnten die Menschen an den Flughafen gebracht werden. «Doch auch hier ist es gut möglich, dass die Taliban gross angelegte Kontrollen rund um die Zone machen und afghanische Personen nicht passieren lassen», so Fisler.
Dass die Schweiz keine eigenen Transportflieger besitzt und keine Soldaten vor Ort schickt, sieht Fisler nicht als Nachteil. «In Afghanistan agieren Einheiten wie Deutschland oder die USA, die schon sehr lange im Land sind und viel Erfahrung haben.» Selbst das Schweizer Armee-Aufklärungsdetachement 10 (AAD 10), zu dessen Aufgaben auch die Rückführung von Schweizer Bürgern aus Krisenlagen im Ausland gehört, sei zu klein und nicht entsprechend ausgerüstet für einen solchen Einsatz. Fisler sagt: «Evakuierungsszenarien werden deshalb im Voraus abgesprochen. Laut Plan ist die Schweiz im Notfall Deutschland und der deutschen Bundeswehr angehängt.»
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) will aus Sicherheitsgründen keine Angaben zu den Evakuierungsplänen machen, hiess es am Dienstag. Man arbeite weiter intensiv an verschiedenen Optionen für die Ausreise.
Fisler bleibt trotz allem optimistisch. Die Taliban-Regierung von Afghanistan habe momentan andere, wichtigere Fragen zu klären. Man müsse schauen, dass die Infrastruktur in Kabul nicht zusammenfällt, die Stromversorgung gewährleistet ist, die Banken weiterhin am Laufen gehalten werden. «Das sind – nebst den politischen Dimensionen – die Herausforderungen, die es jetzt für die Taliban zu klären gibt», so Fisler.
Er könne sich deshalb nicht vorstellen, dass die Taliban Jagd auf tausende Mitarbeiter von internationalen Organisationen machen. Er glaube, dass es nun noch etwas Geduld brauche, bis sich die Situation in ein paar Tagen klären werde. «Ich kann mir gut vorstellen, dass afghanische Deza-Mitarbeitende in den kommenden Tagen eine Ausreiseerlaubnis erhalten und die Taliban die Leute ziehen lassen, die gehen wollen.»
Auch Hans-Peter Lenz vom Krisenmanagement-Zentrum hegt Hoffnung: «Tatsache ist, dass auch heute wieder hunderte Leute ausgeflogen werden konnten. Das zeigt, dass es möglich ist, die Leute rauszubringen. Wir arbeiten intensiv an Lösungen.»
«Wir müssen davon ausgehen, dass sich jeder selbstständig zum Flughafen durchschlagen muss», gleicht einem Komplettversagen und einer vollständiger Fehleinschätzung der Situation.
Warum sollten die Taliban den afghanischen Deza-Mitarbeitenden eine Ausreiseerlaubnis erteilen? Der Krieg ist vorbei und der Terror hat begonnen. Sie sind jetzt an der Macht.