10,9 flache Kilometer in Frauenfeld stehen zum Auftakt der Tour de Suisse auf dem Programm. Geht es nach den Ausrichtern, wird ein Einheimischer das erste Leadertrikot tragen. «Sehr gross» sei diese Hoffnung, sagte Tour-Chef Olivier Senn. «Es wäre sehr cool, wenn es so wäre. Die Chancen stehen nicht schlecht, wir drücken die Daumen.»
Erwartet wird ein Duell zwischen Stefan Küng und Stefan Bissegger. Die beiden Thurgauer sind Spezialisten im Kampf gegen die Uhr und sie kennen die Strecke in Frauenfeld in- und auswendig. Das Rennen führt unmittelbar an Bisseggers Wohnung vorbei.
«Wir sind leistungsmässig sehr nahe beieinander», sagt der 22-jährige Bissegger. «Beide haben sehr gute Chancen, es ist offen.» Der Gewinner eines Zeitfahrens bei Paris-Nizza in diesem Frühling und der fünf Jahre ältere Küng verstehen sich, trainieren ab und an zusammen und waren vor der Tour de Suisse beide auf dem Säntis im Höhentraining.
Bissegger hielt sich früher auf dem Gipfel auf. «Für mich ging es darum, dass ich bei der Tour de Suisse in Topform bin. Sein Fokus liegt wahrscheinlich mehr auf der Tour de France und den Olympischen Spielen und er wird hoffen, dass der Effekt des Höhentrainings dann noch anhält.»
Nach dem Auftakt werden die Augen auf Marc Hirschi gerichtet sein – klar, nach seinem phänomenalen Herbst, in dem er sich mit einem Etappensieg an der Tour de France, dem Sieg bei Flèche Wallone und WM-Bronze an der Weltspitze etablierte.
Der 22-jährige Berner kündigte an, dass er sich besonders auf die 2. und 3. Etappe freue. «Die liegen mir von der Charakteristik her und es dürfte noch keinen Kampf um die Gesamtwertung geben, was die Chancen von Ausreissern erhöht.»
Es könne gut sein, dass er danach der Tour-Leader sei, sagte Hirschi und schwächte gleichzeitig ab: «Aber der Weg ist weit und ich muss topfit am Start sein.» Sein Manager Fabian Cancellara war 2009 der bislang letzte Schweizer Gesamtsieger.
Gespannt sein darf man auf den Auftritt von Gino Mäder. Am Giro d'Italia verblüffte der 24-Jährige mit einem Etappensieg, musste die Rundfahrt eine Woche später aber nach einem Sturz aufgeben. Auf Tom Bohli sollte man ebenfalls ein Auge werfen: Er gilt als Prolog-Spezialist und möchte in Frauenfeld die beiden Stefans hinter sich lassen.
Mathias Frank, vor sieben Jahren Zweiter der Tour de Suisse, möchte bei seiner letzten Teilnahme noch einmal glänzen; der 34-jährige Luzerner bestreitet seine Abschiedssaison. Bei Silvan Dillier ist die Frage, wie viele Freiheiten er als Helfer von Mathieu van der Poel erhält. Die Saison des Aargauers verlief bisher nicht nach Wunsch und war von Verletzungen geprägt. Zudem wird erneut ein Schweizer Nationalteam am Start sein, das unter anderem mit Simon Pellaud mit Ausreissversuchen zu punkten versucht und von einem Etappensieg träumt.
Prognosen über den Gesamtsieg sind jeweils deshalb schwer, weil sich viele Topcracks in der Schweiz den letzten Schliff für die Tour de France holen und diesen deshalb manchmal nicht mit aller Konsequenz anstreben. Die vergangenen beiden Austragungen hingegen widerlegten dies: 2019 siegte Egan Bernal, der danach auch in Frankreich zuschlug. Ein Jahr zuvor gewann Richie Porte.
Die beiden Fahrer von Ineos Grenadiers werden dieses Jahr nicht an der Tour de Suisse antreten. Dennoch dürfte der Weg zum Gesamtsieg über die britische Star-Equipe führen, die mit Richard Carapaz und Pawel Siwakow antritt. Auch Tom Pidcock war vorgesehen, doch vor wenigen Tagen zog er sich bei einem Trainingssturz einen Schlüsselbeinbruch zu. Der Brite ist wie der am Start stehende Mathieu van der Poel ein Aushängeschild der jungen Generation, die das Szepter nach und nach an sich reisst.
Mit Julian Alaphilippe erweist der Weltmeister der Schweizer Landesrundfahrt die Ehre, während Peter Sagan, der dreifache Gewinner des Trikots mit dem Regenbogen, in diesem Jahr fehlt. Von den Sprintern ragen Michael Matthews und Christophe Laporte heraus. Der dreifache TdS-Sieger Rui Costa ist erneut dabei, auch Jakob Fuglsang und Maximilian Schachmann testen ihre Form. Marc Soler und Esteban Chaves sind weitere Namen, die man auf der Rechnung haben sollte.
Für den Sieg im Auftaktzeitfahren kommen selbstredlich nicht nur die Thurgauer Stefans in Frage. Küng nennt etwa den Australier Rohan Dennis als seinen Favoriten. Das Zeitfahren beginnt um 14.17 Uhr, der letzte Fahrer rollt um 17.06 Uhr von der Startrampe.
Tom Dumoulin kehrt in den Radsport zurück. Im Januar hatte der 30-jährige Niederländer angekündigt, sich eine Auszeit zu nehmen, deren Dauer er offen lassen wolle. Nun scheint der Giro-Sieger von 2017 körperlich und geistig wieder im für den Wettkampf nötigen Zustand zu sein. Dumoulins Anmeldung habe dafür gesorgt, dass sich umgehend zahlreiche Reporter für die Tour de Suisse akkreditierten, sagten die Organisatoren.
Ex-Profi David Loosli verantwortet den Parcours und spricht von einer schweren Tour de Suisse. «Die Topographie der Schweiz bringt es mit sich, dass die Fahrer viele Höhenmeter zu absolvieren haben.»
Nach einem strengen Winter und einem schlechten Frühling sind noch nicht alle Pässe bereit. So ist der Nufenen noch zu, anstatt von Fiesch über ihn ins Tessin startet die 6. Etappe deshalb in Andermatt und führt via Gotthard und anschliessend wie geplant über den Lukmanier nach Disentis. Die Königsetappe am letzten Tag musste ebenfalls geändert werden. Weil der Susten noch nicht offen ist, geht es von Andermatt nicht über Furka, Grimsel und Susten zurück nach Andermatt, sondern über Oberalp, Lukmanier und Gotthard.
Das Urner Dorf ist auch das Ziel der vorletzten Etappe – einem ganz besonderen Zeitfahren. Zunächst sind von Disentis auf den Oberalp die Bergfahrqualitäten gefragt, danach auf der rasanten Abfahrt ins Urnerland jene als Abfahrer. «Wir haben vor der Planung mit Fahrern gesprochen, ob so etwas denkbar ist. Die Reaktionen waren grundsätzlich positiv», betonte Loosli. Er ist überzeugt: «Das Risiko kann sehr minim gehalten werden, wenn die Rennfahrer mit der nötigen Sicherheit hinunterfahren.» Verglichen mit einem Massenstartrennen sei es einfacher, da jeder Fahrer seine eigene Linie wählen könne. «Es kann zu Stürzen kommen, aber es ist alles im vertretbaren Rahmen.»
Beim Giro d'Italia war vor vier Jahren eine Sonderwertung für den besten Abfahrer vorgesehen gewesen. Nach Kritik von Fahrern und Medien wurde dieses Vorhaben letztlich jedoch nicht in die Tat umgesetzt.
Die Veranstalter propagieren den Slogan «Sofa statt Streckenrand». Der Aufruf an die Zuschauer, dem Rennen fernzubleiben, war eine Konzession an die 14 von der Tour durchfahrenen Kantone. «Die Pandemie ist nicht zu Ende», betonte Tour-Chef Olivier Senn. Innerhalb des Trosses sei die Bildung von Bubbles ein Muss. Rund um die 84. Tour de Suisse würden über 3000 PCR-Tests durchgeführt, entlang der Strecke wurden für positiv Getestete nicht weniger als 150 Isolationszimmer reserviert.