Am 15. September 2008 deponierte die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers ihre Bilanz. Die Folgen waren verheerend. «Im September und Oktober 2008 durchlebten wir die schlimmste Finanzkrise in der weltweiten Geschichte, die Grosse Depression inbegriffen», stellte Ben Bernanke, der damalige Präsident der US-Notenbank, später fest.
Auch in der Schweiz war die Situation brandgefährlich. «Der Schuss ist haarscharf am Kopf vorbeigegangen», erklärte der damalige Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB), Philipp Hildebrand.
Dass Bernanke damals an der Spitze der US-Notenbank stand, sollte sich als Glücksfall für die Welt erweisen. Er hatte die Wirtschaftskrise der Dreissigerjahren detailliert analysiert und die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Dank Bernanke konnte eine globale Wirtschaftskatastrophe verhindert werden. Nach zögerlichem Start wächst die Weltwirtschaft heute wieder kräftig. Ist damit alles im grünen Bereich?
Am Ursprung der Finanzkrise stand eine Überschuldung. Im Irrglauben, dass Immobilienpreise nur zulegen können, hatten in den USA die Banken mit leichtsinnigen Krediten eine gigantische Blase erzeugt. Als sie platzte, drohte das Bankensystem zu implodieren.
Die Europäer schieben die Schuld an der Krise gerne den Amerikanern in die Schuhe, übersehen dabei aber zwei Dinge: Erstens haben europäische Banken an der US-Subprime-Krise wacker mit gebastelt – die UBS kann eine ganze Oper davon singen –, und zweitens hat der Euro auf dem alten Kontinent ebenfalls zu einer massiven Überschuldung geführt, vor allem rund ums Mittelmeer. In gewisser Hinsicht war die Subprime-Krise daher die Mutter der Euro-Krise.
Sind die Lehren aus der Überschuldung gezogen worden? Nicht wirklich. «Global gesehen sind die Schulden explodiert», stellt Gillian Tett in der «Financial Times» fest. «Letztes Jahr lagen die Schulden bei 217 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts, rund 40 Prozent höher als 2007.»
Im Nachgang der Finanzkrise ist der Begriff «too big to fail» in die Alltagssprache eingeflossen. Gemeint ist damit folgendes: Grosse Banken können zu einer Gefahr für das gesamte Finanzsystem werden, wenn sie unterkapitalisiert sind. Brechen sie zusammen, kollabiert das gesamte System.
Die Finanzkrise hat gezeigt, dass einige Grossbanken tatsächlich «too big to fail» waren. In der Schweiz traf dies etwa für die UBS zu. Die SNB musste ihre faulen Kredite übernehmen, der Bund ihr sechs Milliarden Franken leihen, sonst wäre sie pleite gegangen und hätte dabei einen unvorstellbaren Schaden verursacht. Um dies künftig zu verhindern, sind Massnahmen getroffen worden.
Banken, die als «too big to fail» eingestuft werden, müssen bestimmten, von der Finanzaufsicht Finma festgelegten Kriterien genügen. In der Schweiz betrifft dies die UBS, die CS, die ZKB und die Raiffeisenkasse. Insbesondere sind die Vorschriften bezüglich des Eigenkapitals der Banken verschärft worden. Dabei handelt es sich jedoch um kosmetische Massnahmen. Gegen die Konzentration im Bankensektor ist nichts unternommen worden. Das Systemrisiko von Grossbanken besteht nach wie vor.
Banken sind anfällig für so genannte Bankruns. Wollen alle Kunden gleichzeitig ihr Geld abheben, kracht eine Bank unweigerlich zusammen. Die Depression der Dreissigerjahre war eine Folge solcher Bankruns. In der Krise 2008/2009 gab es keine – aber nur scheinbar.
Es gibt zwei Bankensysteme: Eines mit uns allen bekannten Instituten wie UBS, CS, Kantonalbanken, etc., und ein sogenanntes Schattenbanken-System, das die wenigsten von uns kennen. Es handelt sich dabei etwa um den Geldmarkt, wo Unternehmen und Institutionelle Anleger kurzfristig Geld anlegen oder ausleihen, oder um das Repo-System der Banken (fragt nicht!).
2008 ist es im Schattenbanken System tatsächlich zu einem Bankrun gekommen. Die Folge war eine weltweite Kreditklemme, will heissen: Banken haben schlagartig aufgehört, sich gegenseitig Geld zu verleihen. Ohne rasches Eingreifen der Notenbanken hätte dies wie in den Dreissigerjahren zu einem Kollaps der Weltwirtschaft geführt.
Ist das Schattenbanken System mittlerweile gezähmt? Nochmals Gillian Tett: «Konservative Schätzungen kommen zum Schluss, dass im Schattenbanken System rund 45 Billionen Dollar zirkulieren, das entspricht etwa 13 Prozent aller finanziellen Vermögenswerte. 2010 betrug diese Summe 28 Billionen Dollar. Die Regulierung der Geschäftsbanken hat damit noch mehr Aktivitäten in den Schattenbereich gedrängt.»
Die Notenbanken haben die Lehren aus der Grossen Depression begriffen, die Politik nicht. Zur Ankurbelung der Wirtschaft wurden zwar rund um den Globus sogenannte Fiskalmassnahmen ergriffen – der Staat investierte und gewährte Steuernachlässe –, doch insgesamt war es zu wenig und zu spät.
Vor allem in Europa setzte sich bald wieder die deutsche «Geiz-ist-geil»-Mentalität durch. Berlin drückte Europa eine Austeritätspolitik aufs Auge, die das Heil einzig im Sparen sieht. Die Folgen dieser Politik sind verheerend: Die Ungleichheit hat sich verschärft, ebenso die Massenarbeitslosigkeit, vor allem in den Staaten rund um das Mittelmeer. Griechenland liegt am Boden, Italien und Spanien sind schwer angeschlagen. In der Eurokrise wird weitergewurstelt. Derweil geht der Vormarsch der faschistoiden Rechtspopulisten ungebremst weiter.
Anfänglich hat die Finanzkrise hektische Aktivitäten ausgelöst. Neue Regeln für das Eigenkapital und Massnahmen gegen die «Too-big-to-fail»-Gefahr wurden ergriffen. Die Banken selbst wurden Stresstests unterworfen. Inzwischen hat sich der Reformeifer gelegt. In den USA ist Präsident Trump gar dabei, viele der Auflagen wieder rückgängig zu machen.
Radikale Ideen hatten nie eine Chance. So ist in der Schweiz die Vollgeld-Initiative wuchtig verworfen worden. Auch das Strohfeuer der Kryptowährungen scheint bereits erloschen zu sein. Für durchgreifende Reformen steht offenbar zu viel auf dem Spiel. Oder wie es Martin Wolf, der «grand old man» des Wirtschaftsjournalismus, resigniert in der «Financial Times» formuliert: «Die heutige, auf Renten ausgerichtete Wirtschaft, die so tut, als sei sie eine freie Marktwirtschaft, belohnt jedoch letztlich politisch bestens vernetzte Insider sehr grosszügig.»