Im Aargau werweissen die Parteikollegen schon länger, wann Ruth Humbel zurücktritt. Wann ist es so weit?
Ruth Humbel: Am Freitag ist mein letzter Tag im Nationalrat. Ich werde aber noch an einer Kommissionssitzung im Januar teilnehmen.
Was hat den Ausschlag gegeben, jetzt zu gehen?
Ich musste abwägen. Die Reform der beruflichen Vorsorge sowie die Gesundheitsreform zur einheitlichen Finanzierung von Gesundheitsleistungen (Efas) sind zwei Herzensangelegenheiten. Ich hätte sie gerne noch bis zum Ende begleitet. Allerdings zeichnet sich bei beiden ein Referendum ab, das erst nach den Wahlen im Herbst 2023 zur Abstimmung kommt. Da ist es sinnvoll, wenn das meine Nachfolgerin, mein Nachfolger macht, der auch die Diskussionen in der Kommission und im Parlament eng verfolgt hat. Gleichzeitig komme ich damit dem Wunsch meiner Kantonalpartei nach, meinem Nachfolger die Möglichkeit zu geben, sich bereits in den Ratsbetrieb einarbeiten zu können.
Das tönt nicht nach einem leichten Abschied.
Es stimmt schon. Es häufen sich gerade Geschäfte, die ich eng begleitet habe und die mir wichtig sind. Aber wie sagt man so schön: Man sollte gehen, wenn’s am schönsten ist.
Sie gehen widerwillig?
Es ist nicht einfach. Mir hat immer die Kommissionsarbeit am besten gefallen, das Ringen um Lösungen. Da bin ich etwas wehmütig. Doch im neuen Jahr beginnt der Wahlkampf. Da bin ich froh, diesen nicht mehr machen zu müssen.
Im September 2003 wurden Sie in den Nationalrat gewählt. Was hat sich seither geändert?
Ich stammte noch aus dem Fax-Zeitalter und bin mit Plakaten sowie politischen Anlässen in den Nationalrat gekommen. Das liegt mir bis heute mehr. Soziale Medien musste ich zuerst noch keine bedienen. Heute ist alles viel schneller geworden. Nur die Themen, die haben sich kaum geändert.
Wie meinen Sie das?
Meine erste Abstimmung war 2004 die elfte AHV-Reform, die scheiterte. Insofern hat sich der Kreis geschlossen, dass die AHV-Reform 2022 gelungen ist. Bei der IV war es umgekehrt, eine erste Reform gelang, der letzte Reformschritt fiel schon im Nationalrat durch. Aber wir haben einiges geschafft, etwa die Spital- und Pflegefinanzierung neu aufgestellt.
Beides steht immer wieder in der Kritik.
Das liegt in der Natur der Sache: Wir haben keine nationale Gesundheitspolitik. Wenn das nationale Parlament das Krankenversicherungsgesetz ändert, wird es auf 26 verschiedene Arten umgesetzt.
Auch Sie als Verantwortliche stehen in der Kritik. Ist das politische Klima rauer geworden?
Ja, das hat auch mit den sozialen Medien zu tun. Es äussern sich immer jene sofort, die einen Frust angestaut haben. Das hat sich während der Pandemie sehr deutlich gezeigt. Da entlädt sich der ganze Ärger. Aber es entsteht kein Dialog. Das habe ich auch an einem Covid-Anlass im Sommer 2020 erlebt. Die Diskussion hat Skeptiker mobilisiert, die sich mit Buhrufen und Beschimpfungen begnügten.
Das finden Sie problematisch?
Ich bedaure einfach, dass kein faktenbasierter Dialog mehr möglich ist. Ich finde das für eine direkte Demokratie eine bedenkliche Entwicklung, wenn wir nicht mehr normal miteinander reden können.
Sie selbst wurden von Medien häufig hart angegangen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich bin Sachpolitikerin, die auf eine Verbesserung des Systems hinarbeitet. Unser Gesundheits- und unser Sozialsystem leben beide von Solidarität, sie funktionieren aber nicht ohne Eigenverantwortung. Die Menschen müssen sich auf den Staat verlassen können, aber sie dürfen ihn nicht missbrauchen. Eine Anpassung des Systems ist schwierig, weil es gut funktioniert. Beispielsweise die Renten, AHV und berufliche Vorsorge. 80 Prozent der pensionierten Bevölkerung lebt gut mit der Rente, ist zufrieden mit der finanziellen Situation, wir müssen die AHV also nicht für alle ausbauen. Doch eine zielgerichtete Lösung zu finden, ist schwierig – und man macht sich angreifbar.
Im Gesundheitswesen waren Sie für eine Risikobeteiligung, beispielsweise für Übergewichtige, für die Sie viel Kritik einstecken mussten. War das richtig?
Ich bin klar gegen unterschiedliche Kopfprämien. Ein Mensch kann gesund leben, aber trotzdem an Krebs erkranken. Oder jahrelang rauchen und doch nie Probleme haben. Gleichzeitig könnte eine Kostenbeteiligung bei den Medikamenten dort erhöht werden, wo die Beschwerden eindeutig auf den Lebensstil zurückzuführen sind. Ich war auch dagegen, dass die Krankenkassen jene Schäden übernehmen müssen, die durch Schönheits-OPs entstehen. Der Ständerat erklärte, das sei ein Schritt zur Entsolidarisierung. Aber da habe ich eine fundamental andere Auffassung. Die Risikominderung für Versicherte ist ein Tabu in der Gesundheit.
Auch bei den Sozialdetektiven standen Sie unter scharfer Kritik.
Ich habe den gehässigen Widerstand nicht verstanden. Wir haben präzisiert, was wir in der fünften IV-Revision beschlossen hatten und vom Volk an der Urne angenommen worden ist.
Aber keine andere Politikerin hat sich bei diesem Abstimmungskampf exponieren wollen?
Ja, wenn man nur an die Wiederwahl denkt, ist es schwierig, authentisch zu politisieren. Ich habe immer wieder Zuschriften erhalten, dass mich Personen nicht mehr wählen werden. Auch parteipolitisch gab es manchmal Widerstand, wenn mir Parteikollegen sagten, ich solle mit der Gesundheitspolitik aufhören. Damit lasse sich kein Blumentopf gewinnen.
Weil man sich nur in die Nesseln setzen kann?
Ja, das hat was. Solange wir völlige Wahlfreiheit für Versicherte und völlige Therapiefreiheit für Ärzte haben, das ist per se kostentreibend.
Was muss man also ändern, um die Kosten in den Griff zu kriegen?
Wenn wir eine einheitliche Finanzierung, die koordinierte Versorgung und ein funktionierendes Patientendossier hinkriegen, dann sollten Mehrfach-Behandlungen und Überversorgung verhindert werden.
Die einheitliche Finanzierung (Efas) sollte jetzt dank eines Vorstosses von Ihnen von 2009 gelingen, oder?
Ja, mutmasslich gegen den Widerstand der Krankenkassen, welche die Pflege ausschliessen wollen. Und gegen den Widerstand von links.
Braucht es denn noch eine weitere zwingende Reform des Gesundheitswesens?
Beim Patientendossier braucht es zwingend noch Anpassungen, damit es zum Fliegen kommt. Und bei den Tarifen braucht es Änderungen, um die Leistungen sachgerecht abzubilden.
Alle Änderungen sind auf dem Weg, Sie können sich also in Ruhe zurückziehen?
Natürlich geht es auch ohne mich weiter. Jeder ist ersetzbar. Aber ich verfolge die Geschäfte weiterhin genau.
Wieso gibt es so wenige Politiker, die sich im Gesundheitswesen investieren?
Die SVP hat es zunächst versucht mit Christoph Blocher und Toni Brunner, auch Gerhard Pfister kam in die Gesundheitskommission und wollte die grossen Reformen anstossen. Alle merkten sie: Es ist brutale Knochenarbeit, die sehr tief ins Detail geht. Die Vorstellung von der grossen Strategie im Sozial- oder Gesundheitsbereich ist verfehlt: Die Materie ist komplex, vor allem hängen viele Systeme zusammen. Wer Änderungen anstrebt, muss alle möglichen Konsequenzen im Auge haben.
Ist das auch ein Grund, wieso die Bürgerlichen das EDI nicht übernehmen wollen?
Diese Gedanken habe ich mir auch gemacht. Sowohl Ignazio Cassis wie auch Karin Keller-Sutter waren Sozial- und Gesundheitspolitiker. Aber wenn man in die Ära Couchepin/Burkhalter zurückschaut, sieht man schon, dass wenig glückt.
Wie viel Macht hat denn ein Bundesrat?
Ich stelle fest, dass bei unseren Hearings viele Interessengruppen eingeladen werden. Die Breite macht einen fast ratlos. Für Parlamentarier ist es schwierig, da einzugrenzen und das Wesentliche zu sehen.
Was heisst das für die Gesetzgebung?
Bundesrat Alain Berset will regulieren, er setzt sich durch. Das sieht man aktuell, wie er über die Hintertüre das Referenzpreissystem für Medikamente über den Verordnungsweg einführen will. Es ist aber auch eine Überregulierung bei der Ärztezulassung im Gange. Das ist schwierig.
Bundesrat Berset hat wenig Gehör für gute Ideen?
Ich stelle einfach fest, dass er kaum einer meiner Vorstösse angenommen hat. Das Parlament musste da jeweils nachbessern. Auch die Verschwendung der Medikamente – wir werfen jedes Jahr 4200 Tonnen Medikamente weg – will er nicht einmal untersuchen. Es scheint ihn nicht zu interessieren.
Was kann eine einzelne Parlamentarierin bewegen?
Wer sich in den Dossiers auskennt, kann schon etwas bewegen. Ich habe beispielsweise den Gegenvorschlag der Pflege-Initiative ausgehandelt, den der Bundesrat auch nicht wollte. Ich habe ein gerechtes Rentensplitting in der beruflichen Vorsorge durchgesetzt. Oder auch mit der einheitlichen Finanzierung eine wichtige Reform angestossen.
Was muss ein Politiker mitnehmen, um erfolgreich zu sein?
Ich komme vom Einzelsport und dachte immer: Wer eine gute Idee hat, sollte Erfolg haben. Teamarbeit ist aber sehr wichtig, andere von seinen Ideen überzeugen. Auch Dossierfestigkeit ist wichtig für die Akzeptanz der Kolleginnen und Kollegen. Wenn ich unter vier Augen mit anderen Kommissionsmitgliedern rede, finden sie, man könne gut mit mir arbeiten. Gegen aussen bin ich die Kassenlobbyistin.
Nagt das an Ihnen?
Ja, das ist der Stempel, den ich habe. Ich wurde erstmals als Santésuisse-Mitarbeiterin gewählt und habe jahrelang da gearbeitet, dann das Mandat abgegeben. Es ist aber immer haften geblieben. Aber inhaltlich stimme ich oft auch gegen die Kassen – etwa beim Gegenvorschlag zur Pflege-Initiative oder der Aufnahme der Pflege bei Efas.
Die Kritik an Ihnen kam zuletzt auch aus der Partei. Gehen Sie mit guten Gefühlen?
In der Bundeshausfraktion fühlte ich mich immer gut getragen. Die Sozial- und Gesundheitspolitik ist wichtig für die Partei, diese Anerkennung habe ich gespürt.
Und was haben Sie noch vor die letzten drei Tage?
Ich halte mein letztes Votum zur Initiative für eine 13. AHV-Rente, die ich ablehne. Und ich werde ein Postulat einreichen zur Prüfung der Lebensarbeitszeit. Das ist zwar schwierig umzusetzen, aber meines Erachtens der richtige Weg, um die AHV langfristig finanziell zu sichern.
Und worauf freuen Sie sich privat?
Meine Zeit selber einzuteilen, aufs Langlaufen und Skifahren. Vor allem aber bin ich froh, dass ich keinen weiteren Wahlkampf mehr machen muss. (aargauerzeitung.ch)
Einst optimistischer Ex-Chefarzt Daniel Scheidegger heute im TA:
Sie sind pessimistisch geworden. Lösungsansätze von Bund und der SAMW lägen eigentlich auf dem Tisch. Warum passiert trotzdem nichts?
Es haben sich zu viele bequem im Gesundheitswesen eingerichtet. Bei meiner Tätigkeit in den verschiedenen nationalen Gremien war es beeindruckend, zu sehen, welche Macht die verschiedenen Interessengruppen ausüben und wie sie so Reformen verhindern können. Das geschieht alles versteckt bei Behörden, in Verbänden, Gremien und sowieso im Parlament. Dort sind ….