Auf einen Karton hat jemand die Worte «Je suis Strasbourg» gekritzelt. Ein paar Kerzen stehen vor dem Schaufenster einer Parfümerie, daneben liegen Blumen. Es ist die Ecke in Strassburgs Innenstadt, in welcher der Schwerkriminelle und mutmassliche Attentäter Chérif C. (29) am Dienstagabend Passanten niederschoss. Ein Franzose und ein Thailänder sind tot, ein Afghane ist hirntot. 15 Menschen sind verletzt, einige von ihnen schwer.
Wie die meisten Geschäfte bleibt am Tag danach auch die Parfümerie geschlossen. Vor dem Schaufenster liegen sich Jade, Soizic und Camille in den Armen. Die drei jungen Frauen wohnen zwei Häuserblocks weiter in einer WG. Bei der Parfümerie haben sie eine Kerze angezündet. Sie wollen den Vorabend verarbeiten. «Wir trauern, sind immer noch geschockt», sagt Soizic.
Camille war auf dem Heimweg, als sie die Schüsse hörte. Und dann die schwerbewaffneten Sicherheitskräfte auf sich zu rennen sah. Camille versteckte sich mit anderen Passanten. «Wir wussten nicht genau, was los war.» War es ein Attentäter? Waren es mehrere?
Plötzlich waren sie zurück, die Bilder von der Terrornacht in Paris vor drei Jahren, in der 130 Menschen an mehreren Orten der französischen Hauptstadt den Tod fanden. Nur war es diesmal nicht weit weg in Paris, sondern hier, im Elsass. Als Camille bei ihren Mitbewohnerinnen zu Hause war, war es längst tiefe Nacht. Das Sirenengeheul war verstummt. «Kein Hund war mehr auf der Strasse», sagt Camille. Totenstille.
Niemand will am Tag danach flanieren. Die Weihnachtsmärkte, die auf mehreren Plätzen der Innenstadt stattfinden, sind ohnehin geschlossen. Und bleiben es auch am Donnerstag noch. Auch die meisten Geschäfte und Restaurants haben gar nicht erst geöffnet.
Im Hauseingang gleich gegenüber der Kathedrale Notre-Dame öffnet ein älteres Ehepaar die Haustüre. Nur wenige Meter trennt seine Wohnung von der Strasse, in der am Vorabend die Schüsse fielen. Direkt mitbekommen haben die beiden aber nichts. «Erst als unsere Verwandten aus Amerika anriefen und fragten ‹Was ist los in Strassburg?› schalteten wir den Fernseher ein.» Der Mann ist überzeugt: «Frankreich wurde auf dem falschen Fuss erwischt. Sämtliche Sicherheitsbehörden waren doch wegen der Gelbwestenproteste abgezogen worden.»
Eine Vermutung, die in Strassburg häufig zu hören ist. Viele haben das Gefühl, wegen der wütenden Bürgerproteste der vergangenen Wochen sei die Terrorgefahr in den Hintergrund geraten. Manche fragen sich: Wie konnte Chérif Chekatt seine Waffe unbemerkt in die Innenstadt bringen? Immerhin war der Zugang wegen der Weihnachtsmärkte auch schon vor dem Attentat nur via Sicherheitsschleusen möglich.
Chérif Chekatt schaffte es auch wieder weg. Eine Grossfahndung blieb erfolglos. Zwar wurde er in einem Schusswechsel mit der Armee verletzt, die Behörden vermuteten ihn gestern bereits im nahen Deutschland. Nicht nur die Grenze zu Baden Württemberg wurde indes abgeriegelt. Auch an der Grenze zur Schweiz kontrollierten die Grenzwächter verstärkt.
In Strassburgs Gassen patrouillieren schwer bewaffnete Polizisten. In der Stadt ist es ruhig, die Anspannung ist spürbar. «Als hätte jemand einen Deckel darüber gelegt», so beschreibt der Friseur Daniel Meyer die Stille. Im geöffneten Europ’Café gönnt sich der 70-Jährige einen Espresso und schlägt die Zeit tot. Kunden habe er ohnehin keine. «Vier hatte ich heute, alle anderen meldeten sich ab. Sie hatten keine Lust auf Haareschneiden.»
Anders Meyers Tochter. Auch sie führt ein Coiffeurgeschäft – und hat geöffnet. Eine Kundin und ein Kunde lassen sich die Haare schneiden. Sie haben ihren Termin wahrgenommen. Doch der Blick in die Agenda zeigt grosse Lücken. «Ich hatte viele Absagen heute», sagt Lisa Meyer und lächelt trotzdem. «Hoffen wir, dass es morgen weniger Absagen gibt.»
Der Advent ist für die Coiffeuse die umsatzstärkste Zeit im Jahr. Bleibt die Kundschaft nun über Tage oder Wochen aus, ist das ein Problem. Und auch Lisas Kunde Philippe Schermesser ist besorgt. Als Chef de Service einer grossen Brasserie musste er am Morgen 50 Reservationsstornierungen für den Mittag und 60 für den Abend engegennehmen. «Wir sind gross», sagt er, «wir haben insgesamt 130 Gedecke. Aber so etwas gab es noch nie.»
Die Menschen haben Angst. Zu nah liegt der Schrecken des Vorabends. Sie haben keine Lust auf Coiffeur, keine Lust auf Shopping, keine Lust auf Auswärtsessen. Und allgegenwärtig ist die Terrornacht von Paris, in der die Attentäter auch die Besucher mehrerer Restaurants ins Visier genommen hatten.
In Paris nahm das Leben dann doch wieder seinen Lauf. Und in Strassburg hat Philippe Schermesser Lust zum Feiern. «Ich mag heute Abend nicht in meiner Wohnung bleiben», sagt er. Er hat sich deshalb verabredet zum Essen und Feiern. «Wir können etwas Ablenkung gebrauchen nach dem gestrigen Abend.» Wo wird Schermesser das tun? «Nicht hier in der Innenstadt, das wäre mir dann doch zu nah. Zudem hat ja kaum ein Betrieb überhaupt geöffnet.» (aargauerzeitung.ch)