Wenn etwas die Tristesse der Bürgerlichen am Abstimmungssonntag symbolisiert, dann das Bild vom Nein-Lager, das ein Keystone-Fotograf im Restaurant Grosse Schanze in Bern schoss. Dort hatte sich eine Handvoll Gegner der 13. AHV-Rente versammelt, mit Economiesuisse-Direktorin Monika Rühl und Arbeitgeber-Direktor Roland A. Müller im Zentrum. In ihren Gesichtern zeigt sich Leere.
Kein bürgerlicher Parteipräsident – weder Marco Chiesa (SVP) noch Thierry Burkart (FDP), Gerhard Pfister (Mitte) oder Jürg Grossen (GLP) – hatte sich blicken lassen. Auch Parlamentarier zeigten sich keine – mit der Ausnahme der Nationalrätinnen Bettina Balmer (FDP), Brigitte Häberli-Koller (Mitte) und Melanie Mettler (GLP).
Am Tag nach dem «Schwarzen Sonntag» (Thierry Burkart) gibt es Rücktrittsforderungen. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse und der Arbeitgeberverband hätten gemeinsam «eine der miserabelsten Kampagnen der Schweizer Geschichte» geführt, schreibt der FDP-nahe «Nebelspalter». Für die Direktoren «dieser Misere» müsse das Konsequenzen haben, schreibt das Online-Magazin: «Monika Rühl, treten Sie zurück, Roland A. Müller, geben Sie Ihren Posten auf!»
«Der Erfolg hat viele Väter und Mütter, der Misserfolg ist ein Waisenkind»: Selten war die Lebensweisheit des englischen Nationalökonomen Richard Cobden (1804 bis 1865) treffender als bei der 13. AHV-Rente. Vier Parteien und zwei Wirtschaftsverbände erlebten ihr Waterloo und schieben sich hinter den Kulissen den Schwarzen Peter zu.
Dabei geht es nicht ohne Wählerbeschimpfung. Der grösste Teil der bürgerlichen Ja-Stimmen kommt von der SVP – diese Analyse teilen alle. FDP-Mitglied und Nebelspalter-Chefpublizist Markus Somm spricht aus, was Bürgerliche sonst höchstens denken. Die Ja stimmenden SVP-Wähler seien dumm. «Es sind Trottel, es sind Trottel. Sie meinten, der Regierung eine Ohrfeige zu geben, dabei gaben sie sich selbst eine.»
In einem Interview mit der «Schweizer Illustrierten» vom 2. März verriet FDP-Präsident Burkart, dass er neuerdings ein- bis dreimal pro Woche Dressurreiten trainiere. Mitstreiter aus dem Nein-Lager zur 13. AHV-Rente fragen sich, ob Burkart diese Zeit nicht besser für die Nein-Kampagne bei den AHV-Renten eingesetzt hätte.
Ähnliches müssen sich auch die anderen Parteipräsidenten aus dem Nein-Lager anhören. Gerhard Pfister (Mitte) setzte sich immerhin in einem – sehr zurückhaltenden – Interview mit «20 Minuten» für ein Nein ein.
Marco Chiesa (SVP) hingegen nahm sich ganz aus dem Rennen. Die Tessiner SVP hatte Stimmfreigabe beschlossen. Und Chiesa will es nicht mit der Stimmbevölkerung von Lugano verspielen, da er für Luganos Stadtrat kandidiert. Die SVP, welchen die Kampagne koordinierte, machte deshalb Fraktionschef Thomas Aeschi zum Co-Leiter der Nein-Allianz.
Aus den Parteien wiederum ist zu hören, Economiesuisse (verantwortlich für die Kampagne) und Arbeitgeberverband (verantwortlich für den Inhalt) hätten viel zu spät mit der Gegenkampagne begonnen.
Beim Arbeitgeberverband ist man allerdings der Ansicht, das Resultat mit 58,2 Prozent Ja-Stimmen und einer deutlichen Kantonsmehrheit zeige, dass diese Abstimmung nicht zu gewinnen gewesen sei. «Ich habe noch nie derart viele vorgefasste Meinungen erlebt wie diesmal», sagt Medienchef Stefan Heini. «Die allgemeine Stimmung machte 80 Prozent des Erfolgs aus. Es gab nur eine kleine Chance, diesen Trend zu kehren.»
Politikwissenschaftler Urs Vögeli, Co-Leiter der Denkfabrik Swiss Institute for Global Affairs, sieht dennoch ein strategisches Versagen von Wirtschaft und Politik. «Die bürgerlichen Akteure hätten mindestens vor einem Jahr einen strategischen Dialog mit Jung und Alt lancieren müssen, um die Demografie- und Generationenfrage als Megatrend ernsthaft zu thematisieren», sagt er. Zwei Monate vor der Abstimmung lasse sich die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung nicht mehr über eine Kampagne kippen.
«Dazu kommt die Frage der Demut der Elite», sagt Vögeli. «Hätten die Altbundesräte in ihrem Brief geschrieben, dass sie beispielsweise selbst zehn Jahre lang pro Jahr auf 100'000 Franken Rente verzichten, wäre die Ausgangslage ganz anders gewesen.» Diese symbolischen Nuancen und Befindlichkeiten gehen gemäss Vögeli in der «strategielosen Alltagspolitik» unter und rächten sich später, weil niemand mehr verzichten wolle, vor allem die Vorbilder nicht.
FDP-Präsident Burkart übt sich in Selbstkritik. «Wir waren zu wenig präsent mit der zentralen Botschaft, wer die 13. AHV-Rente zahlt – nämlich der Mittelstand», sagte er beim «Nebelspalter». «Da müssen wir uns an der eigenen Nase nehmen.» Die FDP müsse dann «ausbaden, was die Linken angerichtet» hätten.
Burkart regt ein bürgerliches Gipfeltreffen an. «Wir müssen über die Bücher», sagte er. Die bürgerlichen Parteien sollten nach Rezepten suchen und künftig vor allem dort zusammenarbeiten, wo es um den liberalen, ordnungspolitischen Staat gehe.
Bei der SVP stösst Burkarts Forderung auf offene Ohren. «Ich habe bereits im Herbst 2023 vor den Wahlen vorgeschlagen, dass FDP und Mitte enger mit der SVP zusammenarbeiten müssten», sagt SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. «Deshalb begrüsse ich den Vorschlag von Thierry Burkart.»
Aeschi sagt auch gleich, wo aus Sicht der SVP gespart werden muss. In der letzten Legislatur habe die Mitte-links-Mehrheit im Parlament «Milliarden an Steuerfranken verschleudert», hält er fest und zählt auf: 4 Milliarden jährlich für das Asylwesen, 4 Milliarden jährlich für die Entwicklungszusammenarbeit, 6 Milliarden für den Wiederaufbau in der Ukraine und jährliche Milliarden-Zahlungen an die EU.
«Die SVP fordert, dass die Bundesräte Jans und Cassis nun dringend bei diesen Ausgabenposten Einsparungen vornehmen», sagt er. «So können Gelder für die Sanierung der AHV und die Finanzierung der 13. AHV-Rente freigemacht werden.» Zudem empfehle man Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider «dringlich», dem Parlament «eine umfassende Sanierungsvorlage» vorzulegen, statt einfach den Mittelstand zu belasten.
«Zünglein an der Waage» für einen bürgerlichen Gipfel, wie es Aeschi formuliert, ist die Mitte. Diese dürfte den Gipfel allerdings scheitern lassen. «Reden kann man immer mit allen», sagt Mitte-Präsident Pfister zwar. Er fügt aber hinzu: «Entscheiden würde ich weiterhin gerne mit den eigenen Leuten und für meine eigene Partei.» Die Finanztransaktionssteuer als möglicher Finanzierungsvorschlag der Mitte liege auf dem Tisch.
Pfister mahnt für die Abstimmungsverlierer, zu denen auch er selbst gehört, Demut an. Sie sollten zuerst anerkennen, «dass das Volk anders entschieden hat, als sie wollten», statt schon mit Blockadehaltungen den Volkswillen «zu verzögern oder zu verhindern». Der Bundesrat werde eine Umsetzungs- und Finanzierungsvorlage ins Parlament bringen. «Dann ist es Zeit, sich damit zu befassen.»
Demut legt selbst Economiesuisse an den Tag. «Der Abstimmungsentscheid ist klar, und das gilt es zu akzeptieren», sagt der Kampagnenverantwortliche Roberto Colonello. Er sei «nachvollziehbar», betont er. «Viele Bürgerinnen und Bürger stehen unter Druck mit steigenden Lebenskosten und steigenden Mieten.» Rückblickend sei es wohl «nicht ideal» gewesen, dass das Parlament auf einen Gegenvorschlag verzichtet habe.
(aargauerzeitung.ch)
„Pfister mahnt für die Abstimmungsverlierer, zu denen auch er selbst gehört, Demut an. Sie sollten zuerst anerkennen, «dass das Volk anders entschieden hat, als sie wollten», statt schon mit Blockadehaltungen den Volkswillen «zu verzögern oder zu verhindern».
Zumindest respektvoller als die Leute als „Dumm“ auszugrenzen!
...und wie oft muss der Mittelstand und die tieferen Einkommen das ausbaden was die Bürgerlichen so anrichten ?
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Fehlt nur noch von der Bürgerlichen, das die Initiative zu Kompliziert war und die Stimmbürger nicht draus gekommen sind, das Märchen bringen sie doch sonst immer wenn sie mal verlieren.
Aber vielleicht haben die Bürgerlichen SVP und FDP auch etwas den Bezug "da oben" zum Volk "da unten" verloren ?
Genau wegen solche wurde ja gestimmt - oder das Inserat von denn Ehemaligen Bundesräten die Werbung für ein Nein machten - mit ihren Guten Renten.