Die steigenden Fallzahlen in Grossbritannien sorgen seit Tagen für Schlagzeilen. Tatsächlich bereiten die Kurven den britischen Behörden Sorgen – schliesslich wären für den 21. Juni weitere Öffnungen geplant. Doch der Impfvorreiter Grossbritannien hat in den letzten Tagen erstmals seit Anfang März wieder mehr Fälle pro Million Einwohner registriert als die Schweiz.
Für den Anstieg verantwortlich sind im Vergleich zu früheren Wellen vor allem jüngere Personen aus stark betroffenen Regionen im Nordwesten Grossbritanniens.
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Die folgende Grafik zeigt, dass bei bisherigen Wellen jeweils die Gruppe der älteren Personen (über 60 Jahre) parallel zur jüngeren Gruppe angestiegen ist. In den letzten Tagen ist hier aber eine Diskrepanz zu beobachten.
Weil jüngere Personen Covid-19 häufiger mit milden Verläufen überstehen, steigt die Spitalauslastung auf nationaler Ebene entsprechend nicht an. Weil sich die Ausbrüche jedoch oftmals auf einzelne Regionen konzentrieren, sind trotzdem Anstiege von Corona-Patienten in den betroffenen Regionen zu beobachten.
Bei den Todesfällen blieb der Anstieg bisher aus – und zwar auch im Nordwesten, wo die Fallzahlen teilweise seit zwei Monaten exponentiell ansteigen.
Die folgende Grafik der britischen Financial Times zeigt den relativen Anstieg (in absoluten Zahlen liegt die Herbstwelle deutlich über der aktuellen Welle) der Fallzahlen und Todesfälle. Es ist zu erkennen, dass die Infektionen in dieser Region zwar aktuell ähnlich schnell steigen, die Todesfälle sich jedoch deutlich anders verhalten.
Das sprunghafte Verhalten der Kurve mit Todesfällen in den letzten 60 Tagen ist den sehr tiefen absoluten Zahlen geschuldet. In der Tendenz steigen die Todesfälle jedoch nicht an.
Die gute Nachricht von den britischen Experten: Die Impfung wirkt. Ian Jones, Virologe der Reading Universität formuliert es so:
Was fehlt, ist einzig mehr Zeit. Denn mit knapp einem Viertel ungeimpfter Personen hat das Virus noch immer genug Möglichkeiten, sich auszubreiten – insbesondere, wenn es sich dabei um eine hochansteckende Variante handelt.
Und zu diesen hochansteckenden Varianten gehört die in Grossbritannien inzwischen dominante Delta-Variante. Von den 128 Patienten, die zurzeit in Grossbritannien mit der Delta-Variante hospitalisiert sind, sind nur gerade drei Personen doppelt geimpft.
Gemäss einer kürzlich von der englischen Gesundheitsbehörden veröffentlichten Studie verhindern beide verwendeten Impfstoffe (AstraZeneca und Pfizer) symptomatische Verläufe nach nur einer Dosis zu 33 Prozent bei der Delta-Variante.
Doch die zweite Dosis kann den Schutz nochmals deutlich erhöhen: Mit AstraZeneca erreichte man in der Studie einen 60 prozentigen Schutz gegen die indische Variante, mit dem auch in der Schweiz verwendeten mRNA-Impfstoff von Pfizer sogar 88 Prozent.
Die zweite Dosis sei also entscheidend, halten die Studienautoren fest: Der Schutz, der die Impfung vor schweren Verläufen bietet, wird viel höher sein, als ihre Fähigkeit, leichte Infektionen zu verhindern.
«Wir scheinen also in einem Wettlauf zwischen der Verabreichung der zweiten Impfdosen an alle und der Verbreitung der Delta-Variante zu sein», fasst Deborah Dunn-Walters, Vorsitzende der britischen Covid-Taskforce zusammen.
Das BAG schätzt, dass die Delta-Variante in der Schweiz weniger als zwei Prozent aller Infektionen ausmacht. Überdurchschnittlich oft nachgewiesen wurde sie bisher in der Region Genf.
Ein exponentieller Anstieg wie in Grossbritannien ist hierzulande allerdings nicht in Sicht. Warum die Schweiz – und viele andere europäische Länder – bisher verschont blieben, kann sich der Basler Biophysiker Richard Neher nicht erklären. Eine Rolle würden aber wohl die tiefen Fallzahlen im April spielen.
I don't have a clear explanation for the why δ took over in the UK and not yet elsewhere, but the low case numbers in April will play into it. The impact of introductions and transmission heterogeneity is much bigger in this case.
— Richard Neher (@richardneher) June 7, 2021
(S gene positivity from PHE) [4/5] pic.twitter.com/4xyNGVr9HD
In einem Twitter-Thread erklärt er weitere mögliche Gründe, warum die Delta-Variante die bisher dominante Alpha-Variante (aus Grossbritannien) nicht überall verdrängt hat. Ein Grund könnte sein, dass die indische Variante sehr vielfältig ist: Verschiedene Genotypen verteilen sich auf der ganzen Welt. Und obwohl unterschiedlichste Subtypen schon im April in ganz Europa gefunden wurde, verbreitete sich die Variante ausserhalb von Grossbritannien deutlich langsamer.
Doch Andreas Cerny, Infektiologe am Moncucco-Spital in Lugano warnte gegenüber 20 Minuten: «Es ist durchaus denkbar, dass sich die indische Variante auch bei uns ausbreitet – so wie vor einigen Monaten die britische Variante». Ungeimpfte seien insgesamt leichte Beute für die neue Variante.