Erst einmal wollen wir einem Missverständnis vorbeugen. Ein Kamel zu sein ist in der abendländischen Kultur keine Ehre. Im Morgenland steht das Kamel hingegen in höchstem Ansehen, und ich habe mal irgendwo gelesen, das geduldige Tier werde sogar als Währung in Heiratsgeschäften akzeptiert. Im Zusammenhang mit den Lakers geht es um die ehrenhafte, morgenländische Rolle des Kamels.
Die grosse, die entscheidende Frage ist ja, ob die Lakers unbeschadet an Selbstvertrauen, Zuversicht, Mut und Disziplin durch die endlose Qualifikation kommen. Seit dem ersten Spieltag wissen sie tief im Herzen, dass sie am Ende der Saison um die Existenz kämpfen müssen.
Von September bis Ende Februar fast immer verlieren hält eigentlich keine Mannschaft aus. Viele Teams sind auf dem beschwerlichen Weg durch die Qualifikation «verdurstet» und auseinandergebrochen. Beispielsweise Basel, die Lakers bei ihrem Abstieg 2015 und, natürlich, der EHC Kloten.
Doch vieles spricht dafür, dass die Lakers unbeschadet durch diese Qualifikation kommen und den Trainer nicht feuern werden wie damals Basel, die Lakers in der Abstiegssaison oder die Klotener.
Sie verlieren zwar meistens und sind statistisch noch miserabler als in der Abstiegssaison 2014/15 oder der EHC Kloten letztes Jahr zum gleichen Zeitpunkt.
Aber die Lakers zeigen keine für notorische Verliererteams typische Zeichen der Resignation. Und es gibt keinerlei Polemik gegen den Trainer. Einen so ruhigen, freundlichen Tabellenletzten haben wir in diesem Jahrhundert noch nicht erlebt. Und daher die Frage: Wie ist das möglich?
Und nun kommen eben die Kamele ins Spiel. Sie vermögen gewaltige Distanzen durch die Wüste zu laufen und kommen dabei ohne Wasser und Nahrung aus. Zwischendurch halten sie an Oasen, trinken gewaltige Mengen Wasser und das reicht dann bis zum nächsten Wasserloch weit hinter dem Horizont.
Was die Wasserstelle in der Oase, ist für die Lakers der Cup. Die Siege in diesem Wettbewerb sind für das Selbstvertrauen, den Mut, die Zuversicht und die Disziplin der Jungs auf dem langen Weg durch die Einöde der Qualifikation das, was die Oase für das Kamel auf der Reise durch die Sahara.
Der nächste Halt an der Wasserstelle zum Auftanken des Selbstvertrauens ist der 3. Februar. Der Cupfinal gegen Zug im eigenen Stadion. Da wird das Resultat nicht einmal mehr eine Rolle spielen. Es wird ein Hockeyfest sein, vom staatstragenden Fernsehen direkt in alle Stuben übertragen. Ein Spiel, das die Bestätigung liefert, dass man auch etwas geleistet hat und keineswegs miserabel ist. Grad im richtigen Moment für den dann Ende Februar beginnenden Existenzkampf.
Diese raren Cup-Erfolgserlebnisse saugen die Lakers auf wie das Kamel das kostbare Nass, und so halten sie durch. Bei den Lakers gibt es das sonst für notorische Verliererteams typische Jammern nicht. Eigentlich personifiziert keiner so die tapferen Verlierer aus Rapperswil-Jona so sehr wie Torhüter Melvin Nyffeler.
Er hätte wahrlich viel zu jammern. Auf ihn sind bisher 855 Pucks geprasselt – viel mehr als der Liga-Durchschnitt für Goalies (566). Melvin Nyffeler ist bei den Lakers eine «Schiessbuden-Figur». Und, wie die letzte Woche zeigt, heftigen emotionalen Turbulenzen ausgesetzt. Er ist so etwas wie der «Don Quichotte des Eishockeys». Sein vergeblicher Kampf gegen die heranfliegenden Pucks mahnen an den vergeblichen Kampf des spanischen Landedelmannes gegen die Windmühlen.
Am letzten Mittwoch hext er seine Lakers gegen die SCL Tigers in den Cupfinal (3:2). 48 Stunden später war er am Freitag in der Qualifikationspartie – wiederum gegen die Emmentaler – der Depp. Nach drei Gegentreffern wird er vom Eis geholt. Die Lakers verloren 0:6. Und schliesslich folgte am Samstag in Zug das Ende einer erstaunlichen Serie: Als einziger Goalie der Liga hatte er diese Saison alle Partien begonnen. 27 Mal in Serie, also die Nummer eins.
Aber er musste erstmals seit allem Anfang den Platz der Nummer zwei (Noël Bader) überlassen. Und noch etwas kommt dazu: Durch die frühzeitige Verlängerung beim Tabellenletzten hatte er sich gleich aus dem Rennen für einen Job bei den Grossen – in Bern und Lugano – genommen. Aber er jammert nicht. Nicht über seine hohe Arbeitsbelastung und nicht über eine vergebene Karrierechance. Leichthin erklärt er, Angebote aus Bern oder Lugano habe er keine gehabt. «Sie hätten mich sowieso nicht interessiert.»
Melvin Nyffeler sagt, das Hockeyleben habe ihn Bescheidenheit gelehrt. «Als ich bei den ZSC Lions ein paar erfolgreiche Einsätze hatte, da wähnte ich mich bereits ganz oben.» Aber dann sei er so richtig auf dem Boden der Wirklichkeit gelandet. Chris McSorley holte ihn nach Genf. Aber noch vor dem ersten Spiel transferierte er den Zürcher nach Fribourg. Dort kam Melvin Nyffeler nicht an Benjamin Conz vorbei und nach Vertragsablauf stand er im Frühjahr 2015 arbeitslos da. «Es war eine schwere Zeit für mich. Rückblickend muss ich sagen: Es ist ganz gut, dass ich da durch musste. Ich bin stärker geworden.»
Es geht doch weiter. Er bekommt eine Chance bei den Lakers. Und stellt nach den bitteren Erfahrungen auch sein Leben um. Jaja, er sei ein Rock’n’Roller gewesen. «Aber er ist heute ein Musterprofi», sagt sein Agent André Rufener.
Aber warum hat er sich denn nicht einmal für den SCB oder Lugano interessiert? Niklas Schlegel wird nächste Saison beim SCB die Chance seines Lebens bekommen und Lugano braucht einen Nachfolger für Elvis Merzlikins.
Niklas Schlegel und Melvin Nyffeler haben schon als Buben bei den ZSC Lions gespielt und der Vater von Niklas Schlegel ist heute Melvin Nyffelers Goalietrainer. «Ich bin zwar in der Liga angekommen. Aber ich habe mich noch nicht etabliert», schätzt Melvin Nyffeler, der Cup- und Aufstiegsheld der Lakers, seine Lage realistisch ein. «Ich muss noch besser werden und ich bin den Lakers sehr dankbar, dass sie mir diese Chance geben. Hier habe ich alles, was ich brauche, und wenn mein Vertrag in zwei Jahren ausläuft, werden wir weitersehen.»
Und doch: Selbst als Nummer zwei beim SCB hätte er noch mehr Prestige und Geld als bei den Lakers. Doch das lässt Melvin Nyffeler (24) nicht gelten. Der Bruder von Ajoie-Torhüter Dominic Nyffeler (26, nächste Saison in Kloten) sagt, die Versuchung sei gross, leichtfertig nach schnellem Geld und Ruhm zu streben. «Ich habe das Privileg, bei den Lakers Profisportler zu sein. Ich darf das tun, was mir Spass macht, und werde dafür im Vergleich zu anderen Berufen gut bezahlt. Ich weiss das sehr zu schätzen.»
Im letzten Frühjahr hat Melvin Nyffeler die Lakers in der Swiss League zum Qualifikationssieg und zum Meistertitel, in der Liga-Qualifikation zum Triumph über den EHC Kloten und damit zum Aufstieg und auch noch zum Cupsieg gehext.
Wenn es ihm gelingt, seine Mannschaft am Ende dieser Saison in der höchsten Liga zu halten, dann ist er einer der ganz grossen Torhüter unserer Zeit.
Lieber ein Held in Rapperswil-Jona als die Nummer zwei in Zürich, Lugano oder Bern. So dachte einst schon einer der Grössten der Weltgeschichte.
Gemäss dem Chronisten Plutarch soll Julius Cäsar bei einem Aufenthalt in einem Dorf in den Alpen gesagt haben: «Ich möchte lieber hier der Erste als der Zweite in Rom sein.» Er hat es mit dieser Berufseinstellung weit gebracht. Bis zum Regierungschef des damals mächtigsten Staates der Welt.
Wir sollten nicht ausschliessen, dass es Melvin Nyffeler ähnlich weit bringt wie Julius Cäsar. Nicht in der Politik. Im Sport natürlich. Wenn sein Vertrag 2021 ausläuft, wird er erst 27 sein und seine besten Jahre noch vor sich haben.