Fehlende Erfahrung. Diese Mutter aller Ausreden zieht nicht. Tom Lüthi (32) hat von allen Moto2-Piloten am meisten Erfahrung. Er fährt am Sonntag seinen 277. Grand Prix. Für WM-Leader Alex Marquez (23) wird es erst der 126. sein. Aber der Spanier war schlauer.
Die Piste trocknete ab. Die Frage für das Qualifying – es dauert nur 15 Minuten – war also: Slicks oder Regenreifen? Alex Marquez nützte das letzte Zeitfenster, um in der Box Slicks aufziehen zu lassen. Es blieb ihm gerade noch Zeit für zwei Runden – und die reichte ihm für die Bestzeit. Weil in der Moto2-Klasse nur eine Maschine erlaubt ist, müssen die Reifen gewechselt werden. Umsteigen auf eine andere Maschine ist nicht möglich.
Tom Lüthi verzichtete hingegen auf den Reifenwechsel, versuchte auf den Regenreifen seine Zeit zu verbessern und wurde in den letzten zwei, drei Minuten auf die 12. Position in die 4. Startreihe durchgereicht.
A tactical masterclass from @alexmarquez73 to take #Moto2 pole position! 👏
— MotoGP™ 🇨🇿 (@MotoGP) August 3, 2019
The slick tyres gamble pays off! 🙌#CzechGP 🇨🇿 pic.twitter.com/GM1kCCaJmn
«Ich habe die Situation falsch eingeschätzt» gibt der Emmentaler zu. «Ich war sicher, dass es noch nicht trocken genug für Slicks war. Es gab immer noch mehrere nasse Flecken. Aber offensichtlich war es doch trocken genug…»
Die Zeit war knapp: Reifen wechseln oder nicht – das war eine Entscheidung, die sekundenschnell getroffen werden musste. «Ich habe kurz daran gedacht und den Gedanken wieder verworfen. Dann war es zu spät.» Weitere Erklärungen sind nicht mehr nötig. Es ist, wie es ist. Wenn ihm kein guter Start gelingt ist das Rennen verloren und der Rückstand auf WM-Leader Alex Marquez (8 Punkte) wird am Sonntagabend grösser sein.
Der Rückschlag ist umso ärgerlich, weil sich Tom Lüthi fürs Training viel vorgenommen hatte. Beim letzten Rennen vor der Sommerpause (Sachsenring) musste er auch in der 4. Reihe (12.) losfahren. Das vergeigte Qualifying kostete ihn einen Platz auf dem Podest und die WM-Führung.
Der Titelkampf wird nicht im Training entschieden. Aber der Dauerwettbewerb WM ist auch Kopfsache. Je sicherer, je lockerer, je besser sich ein Fahrer fühlt, desto weniger Fehler macht er und desto schneller ist er. Und wenn sich ein Zweikampf abzeichnet – wie jetzt zwischen Tom Lüthi und Alex Marquez – desto wichtiger wird die «psychologische Kriegsführung». Also die Fähigkeit, den Gegner zu verunsichern bzw. dem Gegner die eigene Stärke vor Augen zu führen. Der grosse Valentino Rossi war in seinen besten Zeiten ein Hexenmeister in diesem Fach. In erster Linie durch gezielte Sprüche.
Verbale Nadelstiche sind nicht Tom Lüthis Sache. Sie entsprechen nicht seinem Wesen. Der sensible Emmentaler führt diese Auseinandersetzung mit positiven Mitteln. Also mit Demonstration seiner Stärke. Und nun ist er zweimal im Training kläglich gescheitert. Zwei Mal Rang 12. Zwei Mal 4. Startreihe.
Er nimmt es scheinbar locker und sagt kurz nach dem Training in der Box, noch in Leder gewandet, das Rennen sei ja am Sonntag. Mit dieser gespielten Lockerheit versteckt er den Ärger und die durch eigene Schuld eingehandelte Verunsicherung. Denn ausgerechnet Alex Marquez hat es besser gemacht.
Das Trainings-Debakel sagt uns auch etwas über die Stärken und Schwächen von Tom Lüthi. Er ist ein intelligenter Fahrer. Risiken geht er selten ein. Was ihm oft die Kritik einbringt, er fahre zu wenig aggressiv. Er sei zu weich. Dabei hat er gerade beim letzten Rennen vor der Sommerpause (Sachsenring) bewiesen, dass er sehr wohl mit dem Messer zwischen den Zähnen fahren kann.
Aber er geht weniger Risiken ein als die anderen Titanen. Pokern ist seine Sache nicht. Deshalb hat er es nicht riskiert, das Qualifying kurz vor Schluss abzubrechen und mit einem hektischen Reifenwechsel alles auf eine Karte zu setzen.
Wer nichts wagt, gewinnt nichts. Wer zu viel wagt, gewinnt aber auch nichts.
Ob Tom Lüthi Weltmeister wird, hängt auch davon ab, ob er den Königsweg zwischen Risikobereitschaft und Besonnenheit findet.