Bill Clintons Spruch «It’s the economy, stupid!» (Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf) ist offensichtlich nicht für die Ewigkeit gedacht, denn würde dies heute zutreffen, dann müsste Joe Biden der populärste US-Präsident aller Zeiten sein. Stattdessen sind seine Umfragewerte im Keller, und es ist ihm bisher nicht gelungen, Johnny Sixpack von den Bidenomics seiner Wirtschaftspolitik zu überzeugen.
Bei Biden und seinen Wirtschaftsberatern muss daher der Frustpegel sehr hoch sein. So hat die «Financial Times» kürzlich eine von Focaldata bei 2000 Erwachsenen durchgeführte Umfrage publiziert, die Folgendes ergeben hat: Die meisten Befragten glauben, die Inflation steige weiterhin an (sie ist massiv zurückgegangen). Sie sind überzeugt, dass die Teuerung höher ist als der Lohnanstieg (die Löhne steigen deutlich rascher). Und sie geben schliesslich an, sie seien weniger wohlhabend geworden (sie sind erheblich reicher geworden).
Ja, die Wohlstandsunterschiede in den USA – und nicht nur dort – sind unanständig. Doch entgegen der gängigen Meinung sind sie in jüngster Zeit nicht noch unanständiger geworden. «Den grössten Anstieg gab es bei den tiefsten Löhnen», stellt die «Financial Times» weiter fest. «Damit ist rund ein Drittel der Lohnungleichheit der letzten vier Jahrzehnte rückgängig gemacht worden. Der Wohlstand hat generell für Reiche und Arme gleichermassen zugenommen.»
All dies ist den Amerikanern noch nicht ins Bewusstsein gedrungen. Nochmals die «Financial Times»: «Im Vergleich zum Zustand vor der Pandemie, ist die Stimmung bei den amerikanischen Konsumenten düsterer als diejenige der Franzosen, Deutschen oder gar der Briten.»
Geht es um die makroökonomischen Kernzahlen – für die meisten Menschen ohnehin ein Buch mit sieben Siegeln – sieht es noch extremer aus. So hat der «Economist» im Frühjahr ein Dossier veröffentlicht, das lobender für die Amerikaner nicht hätte ausfallen können. Die US-Volkswirtschaft ist nicht nur weit besser aus der Pandemie gekommen als alle anderen. Sie ist heute mächtiger und in besserer Verfassung denn je.
Das renommierte Wirtschaftsmagazin spricht denn auch von einer «atemberaubenden Erfolgsstory» und stellt fest: «Die amerikanische Wirtschaft bleibt die reichste, produktivste und innovativste aller grossen Volkswirtschaften. In allen wichtigen Bereichen lässt sie alle anderen weit zurück.»
Die Pandemie hat die globalen Lieferketten aus dem Lot gebracht. Die grosszügige Unterstützung der Regierung hat verhindert, dass die Wirtschaft abgestürzt ist. Zusammengenommen hat dies jedoch auch die Inflation befeuert. Nach Aufhebung des Lockdowns ist die Teuerung gegen zehn Prozentpunkte angestiegen, ein Phänomen, das jüngere Menschen noch nie erlebt und ältere verdrängt oder vergessen haben.
Der Inflationsschub löste eine mittlere Panik aus – teils, weil die Teuerung hartnäckiger war als zunächst prophezeit, teils weil die Falken unter den Ökonomen endlich für einmal Recht bekommen hatten.
Die klassische Ökonomie kennt nur ein Mittel, um die Inflation zu bekämpfen: eine künstliche Rezession herbeiführen. Das geschieht, indem die Zentralbank die Leitzinsen in die Höhe schiessen lässt. In verschiedenen Schritten erhöhte die Fed denn auch die Leitzinsen. Derweil stellten verschiedene Volkswirtschaftler eine Rezession in Aussicht. Lawrence Summers, der ehemalige Wirtschaftsberater von Barack Obama, sprach gar davon, dass die Arbeitslosigkeit während fünf Jahren auf sechs Prozentpunkte ansteigen müsse, um die Inflation in den Griff zu bekommen.
Es ist ganz anders gekommen. Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor bei gut drei Prozent, ein rekordtiefer Wert. Die US-Wirtschaft schafft Monat für Monat mehr Jobs als erwartet – im November waren es erneut rund 200'000. Niemand spricht mehr von einer Rezession, alle erwarten nun ein «soft landing», will heissen: Die Wirtschaft wird ohne künstlich herbeigeführte Rosskur zu einem verträglichen Wachstumspfad zurückfinden.
Auch die Löhne dürfen weiter ansteigen, ohne die Inflation zu befeuern. Der Grund liegt darin, dass die amerikanische Wirtschaft ein eigentliches Produktivitätswachstums-Wunder erlebt hat. Das Bureau of Labor Statistics hat soeben bekannt gegeben, dass die Produktivität im dritten Quartal um 5,2 Prozent angestiegen ist, eine fantastische Zahl. Im gleichen Umfang ist übrigens auch das Bruttoinlandsprodukt gewachsen.
Steigende Produktivität ist das ökonomische Wunder-Elixier schlechthin. Sie macht höhere Löhne möglich, ohne inflationstreibend zu wirken. Diese ökonomische Grundregel lernen Studenten der Volkswirtschaft im ersten Semester.
Gemessen an den gängigen Kernzahlen der Ökonomie sind die «Bidenomics» damit ein voller Erfolg. Warum dringt dies nicht ins Bewusstsein der Amerikaner? Bei konservativen Wählern dürfte Fox News ein wichtiger Faktor sein. Tag für Tag verbreiten Sean Hannity & Co. Horror-Meldungen über den Zustand der Wirtschaft, sei es über den angeblich horrenden Preis der Eier (er sinkt wieder) oder des Benzins (auch das ist wieder billiger geworden).
Das allein erklärt jedoch die lausigen Werte, die Biden in Sachen Wirtschaftskompetenz erhält, nicht. Die Ökonomin Claudia Sahm – sie hat korrekt vorausgesagt, dass es zu keiner Rezession kommen wird – vermutet daher, dass bei den Nicht-Fox-News-guckenden Amerikanern Covid dafür verantwortlich ist, zumindest teilweise. «Die Wirtschaft wurde heruntergefahren, die Menschen nach Hause geschickt, es gab ein tödliches Virus, das wir nicht verstanden haben – das hat die Menschen gebrochen. Und dann kam noch der Krieg in der Ukraine dazu», führt Sahm in einem Interview mit der «Financial Times» aus.
Letztlich aber bleibt die düstere Stimmung der Amerikaner ein Rätsel. Vielleicht sollte man jedoch die Umfragen auch nicht überbewerten. Eines hat sich nämlich überhaupt nicht verändert: Die AmerikanerInnen shoppen, als gäbe es kein Morgen und kaufen gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit mehr als je zuvor.