Nostalgiker kramen tief im Kratten der Erinnerung. Die ZSC Lions und der HC Lugano begegneten sich 2000 und 2001 im Play-off-Final. Die Zürcher gewannen zweimal die Meisterschaft. Es war die bis heute letzte Titelverteidigung in der NLA. Unter dramatischen Umständen: Nach dem finalen Triumph von 2001 kam es in Lugano zu den bis heute schwersten Zuschauer- Ausschreitungen im Rahmen eines Play-off-Spiels. Bänke flogen aufs Eis und die Zürcher flüchteten sich nach Spielschluss in die schützenden Katakomben, um den Triumph zu feiern.
Die ZSC Lions sind Titanen geblieben. Sie feierten 2008, 2012 und 2014 weitere Titel, erreichten 2002, 2005 und 2015 das Finale und gewannen 2003, 2014, 2015 und 2016 die Qualifikation. Sind neben dem SC Bern Meisterschafts-Favorit Nummer 1.
Lugano lebt hingegen nur noch von seiner fernen Vergangenheit. Von den Titeln aus den Jahren 2003 und 2006, vom Finale 2004 und den Qualifikationssiegen von 2004 und 2005. Die Leistungskultur ist zerfallen. Die Finalqualifikation vom letzten Frühjahr erscheint in der Rückschau als Wunder. Die Tessiner haben zwischen 2007 und 2015 keine einzige Play-off-Serie gewonnen.
Lugano ist gegen die ZSC Lions also bloss ein Aussenseiter mit einem grossen Namen. Wenn wir noch etwas tiefer in die Geschichte eintauchen, dann können wir sagen: «Remember 1992». So müsste das Motto für Lugano heissen. Die Zeit für die Revanche für 1992 ist gekommen.
Damals war Lugano haushoher Favorit. Die ZSC Lions hiessen noch ZSC. Ein überaus populärer Krisenklub von immensem Unterhaltungswert und geplagt von ständigen Geldsorgen. Zwischendurch überbrückte der Trainer den Ausländern das Warten auf ausbleibende Zahltage mit persönlichem finanziellem Zustupf. Die Zürcher waren krasse Aussenseiter. Sie wurden trainiert von Arno Del Curto. Und schafften die erste Play-off-Sensation unserer Hockeygeschichte.
Die Zürcher kippten im Viertelfinal von Platz 7 aus Lugano aus dem Wettbewerb. Zweimal siegten sie im Penaltyschiessen. Der Held hiess Wladimir Krutow. Mehr noch: Die Zürcher stürzten Trainer John Slettvoll. Unter dem Schweden hatte Lugano in sechs Jahren vier Titel gewonnen (1986, 1987, 1988, 1990) und 1989 und 1991 das Finale erreicht.
Inzwischen ist der sportliche Ruf des HC Lugano nicht viel besser als damals 1992 die Reputation des ZSC. Ein Triumph im Viertelfinale könnte die Organisation der ZSC Lions ähnlich erschüttern wie damals vor 25 Jahren jene des «Grande Lugano» durch den ZSC-Sensationserfolg. Lugano kam sieben Jahre lang nie mehr übers Halbfinale hinaus.
Manager Peter Zahner und Sportchef Edgar Salis sind zwar prinzipienfest. Trainer Hans Wallson würde nicht gefeuert. Aber die Autorität des Schweden wäre dahin. Er würde die nächste Saison im Amt nicht mehr überstehen und Mathias Seger müsste sich in seiner letzten Saison noch einmal an einen neuen Trainer gewöhnen.
Tatsächlich schlummert in der Auseinandersetzung zwischen Lugano (7.) und den ZSC Lions (2.) das grösste Sensations-Potenzial der Play-offs 2017. Der Aussenseiter hat genug Talent, um die Zürcher in einer Serie über sieben Spiele zu besiegen. Ja, von seiner Struktur her ist der HC Lugano eigentlich für ein kurzes Halleluja in den Play-offs gebaut. Nicht für den langwierigen, mühseligen Alltag der Qualifikation.
Die Erfahrung von Ryan Gardner (38), meisterlicher Saurier aus Luganos letztem Meisterteam von 2006, zählt im Reizklima der Play-offs viel mehr als in den Dutzendpartien der Qualifikation. Maxim Lapierre ist zwischen September und März der lächerlichste Bösewicht der Liga. Aber in der Hitze der Play-offs kann er den Gegenspielern unter die Haut gehen. Und die Schillerfalter Linus Klasen und Damien Brunner sind dazu in der Lage, einzelne Spiele zu entscheiden.
Auf den Ausländerpositionen ist Lugano mit Maxim Lapierre, Linus Klasen, Patrick Zackrisson und Tony Martensson dem Favoriten fast ebenbürtig. Wenn Torhüter Elvis Merzlikins so gut spielt, wie er sich selber einschätzt, dann ist tatsächliche eine Sensation möglich. Unter normalen Umständen gewinnen die ZSC Lions. Aber in den Play-offs sind die Umstände, zehn Franken fürs Phrasenschwein, in der Regel nicht normal.
Vor einem Jahr sind die Zürcher als Qualifikationssieger und Vorjahresfinalist bereits im Viertelfinal gegen den späteren Meister SC Bern kläglich gescheitert (0:4). Sie sind gewarnt. Der HC Lugano ist nicht so hoch einzuschätzen wie der SCB vor einem Jahr. Aber die ZSC Lions waren im Laufe dieser Saison auch nicht jeden Abend besser als letzte Saison.
Hiesse der Kanadier Greg Ireland Georg Inderbitzin und hätte er einen Schweizer Pass, dann würde er nur mit Mühe zu einem Gratisticket für ein Play-off-Spiel des HC Lugano kommen. Er hat im Frühjahr 2011 in Lugano schon einmal ausgeholfen und stand beim wundersamen Sieg gegen die übermächtigen Lakers in den Play-outs an der Bande. Er hat also Lugano vor dem Abstieg gerettet. Charisma? Nein, hat er nicht, und er ist letzte Saison in Mannheim gefeuert worden und im grossen, im richtigen Hockey kann er noch keine nennenswerten Erfolge vorweisen.
Alles klar also? Nein. Denn wir sollten uns hüten, Greg Ireland zu schmähen und zu unterschätzen. Ein «kleiner» Trainer für viele grosse (oder vermeintlich grosse) Spieler könnte in den Zeiten der Play-offs für Lugano durchaus die richtige Besetzung sein.
Zürichs Hans Wallson und sein Assistent Lars Johansson wären in Lugano wahrscheinlich nicht mehr im Amt. Sie sind in der Kabine nicht beliebt – aber das war auch Bob Hartley nicht, und er wurde 2012 Meister. In Zürich haben die Spieler, anders als in Lugano, keinen direkten Zugang zum Präsidium, um sich zu beschweren, wenn der Trainer viel verlangt und hin und wieder unfreundlich ist. Diese Professionalität ist die grosse Differenz zu Lugano. Die ZSC Lions haben eine ungleich höher entwickelte Leistungskultur.
Luganos Elvis Merzlikins (Fangquote 91,24 Prozent) war in der Qualifikation besser als ZSC-Meistergoalie Lukas Flüeler (91,24 Prozent). Aber die Statistik sagt in diesem Fall nicht die ganze Wahrheit. Hinter einer besser organisierten Abwehr ist der wehrhafte Titan Lukas Flüeler (192 cm/99 kg) mit dem schlauen Winkelspiel in hitzigen Partien nur schwer zu überwinden.
Elvis Merzlikins (191 cm/82 kg) ist talentierter, flinker, reflexschneller als Lukas Flüeler. Der Spektakelgoalie riskiert aber mit seinem aggressiven Spiel beim Herausfordern der Stürmer hin und wieder zu viel. Spielt er sein bestes Hockey, entscheidet er die Serie für Lugano.
Die statistische Differenz ist erheblich. In der Qualifikation haben die ZSC Lions 165 Treffer erzielt, Lugano «nur» 142. Aber in Tat und Wahrheit ist der Unterschied gar nicht so gross. Die ZSC Lions können es sich nicht leisten, schon im Viertelfinal die offensiven Kräfte auf drei oder zwei Linien zu bündeln, wenn die Kraft bis zum Titelgewinn reichen soll. Lugano kann seine Saison hingegen bereits mit einem Triumph im Viertelfinal retten und seine besten Stürmer über Gebühr belasten. Wenn Luganos Schillerfalter beissen (Linus Klasen, Damien Brunner), dann werden die Zürcher in Not geraten.
Zürich hat die feuerkräftigste Offensive der Liga (165 Tore) und trifft auf die schwächste Abwehr aller für die Play-offs qualifizierten Teams (155 Gegentreffer). Nicht die nominelle Besetzung der Abwehr ist die Ursache für Luganos defensive Schwierigkeiten. Sondern das Fehlen eines stabilen Konzeptes, das auch unter Druck funktioniert. Die ZSC Lions haben beides – die nominell beste Verteidigung der Liga und ein gutes Spielkonzept. Wahrlich, Elvis Merzlikins muss weit, weit über sich hinauswachsen, wenn er diesen Nachteil kompensieren will.
Die hockeytechnische Logik sagt, dass die ZSC Lions das Halbfinale erreichen. Aber diese Serie hat das Potenzial für eine Überraschung und ein Drama über sieben Spiele.