Jon Meacham gehört zu den renommiertesten Historikern der USA – und er ist besorgt. Der Streit um die Schuldenobergrenze (debt ceiling) erinnere ihn an die Zustände in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts, erklärte er jüngst auf dem TV-Sender MSNBC. Auch damals waren die Amerikaner hoffnungslos zerstritten, und dieser Streit konnte bekanntlich nur mit einem äusserst blutigen Bürgerkrieg beendet werden.
Natürlich denkt Meacham nicht an eine Wiederholung eines solchen Bürgerkrieges. Wie auch? Die politischen Fronten zwischen den Streithähnen verlaufen heute nicht entlang von Nord und Süd, sie verlaufen mitten durch die Gesellschaft. Doch der Streit im 21. Jahrhundert steht demjenigen im 19. Jahrhundert punkto Heftigkeit in nichts mehr nach. Politische Gegner sind keine Menschen mehr, mit denen man sich letztlich mehr oder weniger gut arrangieren muss. Es sind Todfeinde, die vernichtet werden müssen.
Jüngstes Beispiel dieses Streits ist die Debatte um die Erhöhung der Schuldenobergrenze. Worum geht es?
Mit der Schuldenobergrenze muss der Kongress in regelmässigen Abständen die Staatsausgaben absegnen. Das Gesetz wurde 1917 eingeführt. Damals ging es darum, den Zorn der Isolationisten über das Eingreifen der US-Streitkräfte in den Ersten Weltkrieg zu mildern.
Heute hat dieses Gesetz keinen erkennbaren Sinn mehr. Es ist eine lästige Pflicht, welche der Kongress routinemässig abspult. Seit 1960 ist diese Obergrenze 80 Mal angehoben worden, stets mit dem Segen beider Parteien. Unter Präsident Ronald Reagan war dies 18 Mal der Fall, unter Donald Trump 3 Mal, ebenfalls mit den Stimmen der Demokraten. (Okay, es gibt eine Ausnahme, 2013 mit Obamacare, aber lassen wir das.)
Nun aber ist die Schuldenobergrenze zu einem Zankapfel geworden. Obwohl sämtliche Republikaner dagegen stimmten, hat sie das Abgeordnetenhaus erneut wieder abgesegnet. Im Senat jedoch droht sie zu scheitern. Mitch McConnell, der Führer der Minderheit, hat erklärt, kein einziger republikanischer Senator werde diesmal dafür stimmen, und drohte gleichzeitig mit einem Filibuster und damit mit einer totalen Blockade.
McConnells Begründung ist nicht nur scheinheilig, sie ist auch lächerlich. Er wolle damit die ungebremste Ausgabenflut der Demokraten verhindern, so McConnell, der damit auf das 3,5-Billionen-Dollar-Infrastrukturprogramm anspielt, welches die Biden-Regierung durch den Kongress peitschen will. Das ist faktisch gesehen Blödsinn. Die Obergrenze bezieht sich auf Schulden der Vergangenheit, nicht der Zukunft.
Die Demokraten könnten die Obergrenze ja in ihre Infrastruktur-Vorlage einbauen und diese dann mithilfe des sogenannten Reconciliation Prozess (fragt nicht!) auch ohne die Stimmen der Republikaner verabschieden, argumentieren die Vertreter der Grand Old Party weiter. Ebenfalls Blödsinn. Warum sollten die Demokraten plötzlich ein äusserst aufwändiges Verfahren für einen Routineakt bemühen, zumal die Zeit dafür fehlt?
Obwohl das Absegnen der Schuldenobergrenze eine längst überholte Pflichtübung geworden ist, sind die Folgen dramatisch, wird diese Pflicht nicht ausgeübt. Die USA erklären sich damit für bankrott, etwas, das es in der Geschichte noch niemals gegeben hat. Finanzministerin Janet Yellen schilderte deshalb jüngst die möglichen Konsequenzen im «Wall Street Journal» wie folgt:
Man stelle sich damit vor: Mitten in einer Pandemie, mitten in einer geopolitisch heiklen Lage mit einem sich verschärfenden Konflikt mit China und Russland, sind die Republikaner bereit, wegen eines Routineaktes einen überflüssigen Staatsbankrott mit all den gravierenden Folgen in Kauf zu nehmen.
Auch die Demokraten spielen ein riskantes Spiel. Um das 3,5-Billionen-Dollar-Infrastrukturprogramm tobt ein heftiger innerparteilicher Streit. Um es mit dem Reconciliation Prozess (fragt nicht!) durch den Senat zu schleusen, müssen alle Demokraten mitziehen. Zwei von ihnen, Joe Manchin und Kyrsten Sinema, wollen jedoch nicht mitmachen. Sie verlangen, dass zunächst das bereits überparteilich beschlossene Ein-Billionen-Dollar-Programm auch vom Abgeordnetenhaus verabschiedet wird.
Dabei macht jedoch die 90-köpfige Fraktion der Progressiven im Abgeordnetenhaus nicht mit: Entweder beide oder keine, lautet ihr Ultimatum – und sie meinen es sehr ernst. Kommt es zu keiner Einigung, scheitert das Infrastrukturprogramm als Ganzes.
Es wird also mit sehr hohem Einsatz gepokert. Sollten die Republikaner tatsächlich einen völlig unnötigen Staatsbankrott herbeiführen, dann müssen sie ihren Wählern unter anderem erklären, weshalb sie der von einem Hurrikan schwer getroffenen Bevölkerung des Bundesstaates Louisiana keine Hilfe zukommen lassen wollen.
Die Demokraten ihrerseits müssen sich sehr hart überlegen, ob sie tatsächlich das Infrastrukturprogramm auf dem Altar der Prinzipien opfern und damit mit sehr schlechten Karten in die Zwischenwahlen steigen wollen.
Beide Seiten lassen dabei die Bedürfnisse der Bevölkerung aussen vor. Die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner wünscht sich endlich einen Ausbau der maroden Infrastruktur und bessere Sozialleistungen. Sie wollen auch, dass endlich wirksame Schritte gegen die Klimaerwärmung unternommen werden. Und niemand kann ein Interesse an einem mutwillig herbeigeführten Staatsbankrott haben.
Die Demokratie sei kein Fussball, den man ungestraft herumkicken könne, erklärte Gavin Newsom, Gouverneur von Kalifornien. Er wurde soeben nach einem ebenfalls völlig überflüssigen und lächerlichen versuchten Absetzungsverfahren wiedergewählt. Doch genau ein solcher Kick spielt sich in der US-Politszene derzeit ab. Wer mitten in einer Pandemie einen völlig überflüssigen Staatsbankrott riskiert, wer keine Einigung in einem dringend benötigten Infrastrukturprogramm erzielen kann, der schadet nicht nur seinem politischen Gegner. Der bringt die Demokratie in Gefahr und bereitet den Boden vor für einen Kulturkrieg mit ungewissem Ausgang.