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Heftige Debatte im deutschen Bundestag über Corona-Notbremse

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Kanzlerin Angela Merkel (links) und der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (rechts) am 16. April im Bundestag. Bild: keystone

«Furchtbare Phase»: Merkel und der Bundestag debattieren heftig über die Massnahmen

Die geplante landesweite Notbremse zur Vereinheitlichung der Anti-Corona-Massnahmen in Deutschland ist auf dem parlamentarischen Weg.
16.04.2021, 22:32
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Im Bundestag lieferten sich Regierungsparteien und Opposition am Freitag einen heftigen Schlagabtausch in der ersten Beratung über entsprechende Änderungen des Infektionsschutzgesetzes. Die Opposition kritisierte vor allem die darin geplanten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen und forderte Änderungen am Gesetzentwurf. Die liberale FDP drohte mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Vorhaben.

Die Lage ist ernst, und zwar sehr ernst.»
Angela Merkel

Kanzlerin Angela Merkel warnte in der Debatte eindringlich vor einer Überforderung des Gesundheitssystems in der Coronavirus-Pandemie. «Die Lage ist ernst, und zwar sehr ernst.» Das geplante Gesetz solle das Land aus der «furchtbaren Phase» der ständig steigenden Infektionszahlen herausführen und ein immer weiteres Ansteigen bei den Schwerkranken und Intensivpatientinnen und -patienten verhindern.

Sie verteidigte die geplanten Ausgangsbeschränkungen. «Es geht darum, abendliche Besuchsbewegungen von einem Ort zum anderen – im Übrigen auch unter Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs – zu reduzieren.»

Mit dem Gesetz soll es künftig landesweit einheitliche Regelungen für Corona-Massnahmen geben. Überschreitet die Zahl der Neuinfektionen auf 100'000 Einwohnende binnen sieben Tagen in einer Stadt oder einem Landkreis den Wert von 100 an drei aufeinander folgenden Tagen, müssen etwa Geschäfte geschlossen werden und es greifen Ausgangsbeschränkungen ab 21 Uhr.

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Angela Merkel im Bundestag am 16. April 2021.Bild: keystone

Schulen sollen ab einem Wert von 200 mit Ausnahmen keinen Präsenzunterricht mehr anbieten dürfen. Bisher lagen solche Massnahmen in der Verantwortung der Länder. Die erneute Änderung des Infektionsschutzgesetzes hatte die Regierung in Folge des Scheiterns der sogenannten Osterruhe auf den Weg gebracht.

Nach der ersten Lesung im Bundestag sollte noch am Freitagnachmittag in einer öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss über die «Bundes-Notbremse» beraten werden. Die Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag ist für Mittwoch vorgesehen. Danach muss es noch den Bundesrat (Länderkammer) passieren.

Scharfe Kritik seitens AfD

Scharfe Kritik kam von der Fraktionschefin der rechtspopulistischen AfD, Alice Weidel. Sie nannte den Gesetzentwurf ein «alarmierendes Dokument obrigkeitsstaatlichen Denkens».

«Sie misstrauen den Bürgern, deshalb wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsperren
Alice Weidel

Der Impuls dazu gehe vom Kanzleramt und insbesondere von Merkel aus. «Sie misstrauen den Bürgern, deshalb wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsperren», sagte Weidel. Die Regierung lege zudem die Axt an den Föderalismus. «Ausgangssperren sind unverhältnismässig und verfassungswidrig.»

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Alice Weidel von der rechtspopulistischen Partei AfD (Alternative für Deutschland) am 16. April 2021.Bild: keystone

FDP droht mit Verfassungsbeschwerde

FDP-Partei- und Fraktionschef Christian Lindner drohte der Regierung mit einer Verfassungsbeschwerde. «Es ist richtig, dass nun bundeseinheitlich gehandelt wird», sagte er. Die geplanten Regelungen zu nächtlichen Ausgangsbeschränkungen nannte er aber verfassungsrechtlich «hochproblematisch». Man werde Vorschläge machen, dieses Gesetz verfassungsfest zu machen. Die FDP werde sich gezwungen sehen, den Weg einer Verfassungsbeschwerden zu gehen, wenn auf die Bedenken nicht eingegangen werde.

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Christian Lindner von der FDP-Partei am 16. April 2021 im Bundestag.Bild: keystone

Grüne und Linke warfen der Regierung vor, das Wirtschaftsleben in dem Gesetz nicht ausreichend zu berücksichtigen. In der Wirtschaft gebe es faktisch null Beschränkung, sagte der Linken-Politiker Klaus Ernst. Im Gesetz stehe etwa nicht, dass man testen müsse, bevor man sich am Arbeitsplatz aufhalte. «Warum schreiben sie das nicht rein? (...) Weil sie den Unternehmerverbänden im Hintern hängen!»

«Abrissbirne des Parlamentarismus»

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch bezeichnete die geplante Bundes-Notbremse als «Abrissbirne des Parlamentarismus». Das Vorhaben mit seinen Eingriffen in Grundrechte und Ausgangsbeschränkungen sei nicht die Lösung.

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Dietmar Bartsch im Bundestag am 16. April 2021.Bild: keystone

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt forderte, dass «dringend nachgebessert» werden müsse. «Und da geht es zuallererst für mich um die Kontakte in der Arbeitswelt, die müssen maximal rechtsverbindlich runter und der Schutz muss hoch.» Göring-Eckardt kritisierte zudem den geplanten Grenzwert für Schulschliessungen, der im Gesetz bei 200 festgelegt wird. Erst ab dieser Inzidenz zu handeln, sei zu spät, sagte sie.

Der sozialdemokratische Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warb in der Debatte eindringlich für eine schnelle Umsetzung der geplanten Ausgangsbeschränkungen am Abend gegen die dritte Corona-Welle:

«Es wird alleine nicht reichen, aber in keinem Land ist es gelungen, eine Welle mit Variante B.1.1.7 noch einmal in den Griff zu bekommen, ohne dass man nicht auch das Instrument der Ausgangsbeschränkung (...) genutzt hätte»
Karl Lauterbach

Hier noch die gesamte Debatte:

Ganze 11 Stunden dauerte die Debatte: Video: YouTube/Deutscher Bundestag

(sda/dpa)

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Angela Merkel in der Frittenbude
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6 Kommentare
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Locutus70
17.04.2021 00:02registriert September 2018
Man kann es nicht anders sagen: Diese Frau ist irre. Selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestages und zahlreiche Verfassungsrechtler haben große Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes - aber die Frau will einfach mit dem Kopf durch die Wand.
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Tobias W.
17.04.2021 06:43registriert Januar 2017
Da bin ich ausnahmsweise sogar mit der AfD einig 🤣

Ausgangsbeschränkungen sind von mir aus gesehen ein no-go. Außer wenn die Zahlen dann wirklich pervers sind, so wie damals in Norditalien oder im Januar in Portugal

Aber Deutschland ist ja noch in einer „komfortablen“ Lage. Es wäre angebracht, dass die Regierung auch die Menschlichkeit der jüngeren Generationen berücksichtigt (und nicht nur die der Alten). Da lobe ich mir die Schweiz, wo wenigstens versucht wird, einen guten Weg zu finden.
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