Manchmal entscheiden im Tennis Millimeter über Sieg oder Niederlage. Über Jubel oder Tränen. Stan Wawrinka hatte seinen Zeigefinger schon zur rechten Schläfe gestreckt, um über seinen Sieg zu jubeln, als der Schiedsrichter vom Stuhl stieg, um den Abdruck des Balls nach überprüfen. «Eine halbe Sekunde war ich unsicher», sagte Wawrinka nach seinem 7:6 (6), 5:7, 6:4, 3:6, 8:6-Sieg gegen den Aufsteiger des Jahres, den 20-jährigen Griechen Stefanos Tsitsipas (ATP 6).
5:09 Stunden hatte sich der Romand am dritten Tag in Folge, an dem er im Einsatz stand, abgemüht. Er hatte gekämpft und gelitten, gehadert und geschrien, und sich dabei sichtbar einen Sonnenbrand eingefangen. Doch das alles war ihm an diesem Pariser Sommerabend egal. Es war der Abend der Rückkehr des Leidensmanns Wawrinka.
«Das Spiel wird Spuren hinterlassen», gab er im Hinblick auf den weiteren Turnierverlauf unumwunden zu. «Doch diese Emotionen sind auch der Grund, weshalb ich noch Tennis spiele. Nur das Tennis, dieser unglaubliche Sport, kann mir das geben. Darum will ich es heute einfach nur geniessen», sagte er nach seinem zehnten Fünfsatzsieg in Paris. Zwei Jahre nach seinen beiden Operationen am Knie und ein Jahr nach dem Absturz auf Rang 263 der Weltrangliste steht der 34-Jährige wieder in den Viertelfinals eines Grand-Slam-Turniers.
«Ich tat das alles, weil ich das Tennis liebe. Als Kind war es immer mein Traum, Roland Garros zu spielen. Und wenn du Schmerzen hast und unsicher bist, ob du es zurückschaffst, musst du dir das in Erinnerung rufen, was du dir als Kind immer gewünscht hast», sagte er in der ersten Turnierwoche von Paris.
Stan Wawrinka hatte in den letzten beiden Jahren oft Schmerzen, oft Zweifel, ob er es zurück an die Spitze schaffen würde. Es gab Tage, an denen er aufgeben wollte, seine Karriere beenden. Es zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben und die Karriere. Als er im Januar 2014 die Australian Open gewinnt, ist er fast 29 Jahre alt. «Bei mir hat alles etwas länger gedauert», sagt er einmal. Seine Erfolge sind hart erarbeitet, manchmal sogar im Schmerz geboren. «Wer zu den Besten gehören will», sagt er, «der muss das Leiden fast schon geniessen».
Nach den US Open 2016 gibt er einen ungewohnt tiefen Einblick in sein Innenleben: «Ich zitterte am ganzen Körper, wollte mich übergeben. Fünf Minuten vor dem Final musste ich weinen.» Es ist eine Erfahrung, die ihn prägt. «Du musst den Schmerz akzeptieren, musst du dich antreiben, körperlich, aber auch mental. Du musst den Druck und die Schmerzen akzeptieren», sagt er 2017 in Paris nach seinem bislang letzten Fünfsatzsieg.
Lange fühlte sich Stan Wawrinka in der Welt, in der er sich bewegt, fehl am Platz. Applaus war ihm unangenehm, wie auch das Rampenlicht als Begleiterscheinung des Erfolgs. Als Jungprofi war er scheu und introvertiert, Zweifel sein ständiger Begleiter. Der Romand hat sich erst an die Aufmerksamkeit gewöhnt, und nun – im letzten Viertel seiner Karriere – Gefallen daran gefunden. Zeit seiner Karriere stand er im Schatten anderer, doch in Paris ist bislang er der Mann der Emotionen. 12:27 Stunden stand Wawrinka auf dem Weg in die Viertelfinals auf dem Platz.
Doch für Wawrinka sind das an diesem Abend nur Zahlen. «Für mich zählen die Emotionen, die mir das Tennis gibt. Ich bin einfach glücklich, diese noch leben zu dürfen.» 2015, als er in Roland Garros den Titel gewann, hatte er in den Viertelfinals Roger Federer in drei Sätzen bezwungen, gleichwohl schiebt er dem Baselbieter die Favoritenrolle zu. «Er ist zwar noch älter als ich, aber auch noch besser», sagt Wawrinka im Hinblick auf das Spiel. «Roger ist der Beste, der dieses Spiel je gespielt hat.»
Roger Federer sagt, Wawrinka habe nach seinen Operationen am Knie eine Art zweites Leben auf der Tour erhalten. Wawrinka widerspricht dieser Lesart. «Ich bin 34 Jahre alt. Es ist immer noch mein erstes Leben. Und mit diesem bin ich glücklich.» Wie glücklich, zeigte sich nach dem 05:09-Stunden-Spiel. Wawrinka, der Leidensmann, verschwand danach nicht gleich in der Kabine, sondern liess sich minutenlang vom Publikum hochleben.
Ich liebe es, beiden zuzusehen.
Hopp schwiiz ☺️