Die Schlacht hat gerade erst begonnen. Nach zweieinhalb emotionalen Stunden hat Nationalratspräsident Dominique de Buman (CVP) die Beratung der Selbstbestimmungsinitiative unterbrochen. Die Debatte soll am nächsten Mittwoch fortgesetzt werden. Geschätzte Dauer: Nochmals mindestens acht Stunden. Über 80 Ratsmitglieder haben sich auf der Rednerliste eingetragen.
Die gute Nachricht: Kennst du die folgenden 5 Szenen, kannst du dir den Rest der Debatte getrost schenken.
«Mit der Selbstbestimmungsinitiative wollen wir erreichen, dass Entscheide von Volk und Ständen wieder umgesetzt werden.» So begann Hans-Ueli Vogt, der als Vater der Initiative gilt, sein Votum. Und gab damit gleich die Linie für die weiteren SVP-Voten vor. Die Schweizer Bürger müssten Fragen wie jene der Zuwanderung oder der Ausschaffung wieder selber regeln können, ohne dass internationale Verträge dies verunmöglichten, argumentierte Vogt.
Der Rechtsprofessor stellt sich auf den Standpunkt, bis vor wenigen Jahren sei es selbstverständlich gewesen, dass die Bundesverfassung in der Schweiz über dem nicht zwingendem Völkerrecht steht. 2012 habe dann eine «kalte Entmachtung der Stimmbürger» stattgefunden – in Form eines Bundesgerichtsurteils, welches diese Ordnung im Land auf den Kopf gestellt habe.
Indem die Gegner internationales Recht überhöhten und in das «rechtsethische Gewand» des Völkerrechts steckten, begingen sie einen Etikettenschwindel erster Güte, so Vogt. Für ihn ist klar: «Internationales Recht und internationale Organisationen sind die Waffen in den Händen der drei Staatsgewalten, um das störende Volk in die Schranken zu weisen.»
Sämtliche Fraktionen ausser die SVP lehnen die Initiative ab. Ein flammendes Plädoyer hielt Grünen-Fraktionschef Balthasar Glättli. Ein demokratischer Rechtsstaat stehe auf zwei Beinen, betonte er. «Das eine Bein ist in der Schweiz stark, sehr stark. Es ist die direkte Demokratie. Das andere Bein ist die Rechtsstaatlichkeit, die Garantie der Grundrechte.»
Die Selbstbestimmungsinitiative wolle einem «Recht des Stärkeren zum Durchbruch» verhelfen, wonach die Stimmbürger immer ihren Willen bekommen – selbst wenn sie mit ihren Entscheiden das humanitäre Völkerrecht verletzen. Dies sei falsch. «Menschenrechte und Grundrechte sind immer auch Abwehrrechte von einzelnen Menschen gegen den Staat, gegen staatliche Willkür.» Oder anders formuliert: «Eine Demokratie ohne Grundrechte, das ist so, wie wenn sieben Füchse und eine Gans darüber abstimmen, was es zu essen geben soll.»
Auf eine Rückfrage von SVP-Nationalrat Roger Köppel, wer in der Schweiz das letzte Wort haben solle, antwortete Glättli: «Ich hoffe, dass in diesem Land weiterhin überlegte und ruhige Bürgerinnen und Bürger entscheiden – und nicht Schreihälse wie Sie.»
Um ihre Redezeit zu verlängern, griff die SVP auf einen Trick zurück, den sie schon bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative bemüht hatte. So deckten die SVP-Exponenten sämtliche Redner mit Zwischenfragen ein – selbst die eigenen Parteikollegen.
SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher fragte ihren Mitstreiter Hans-Ueli Vogt etwa, wie wichtig die Initiative für den Erhalt unseres Staatsmodells sei. Die Antwort von Vogt, sinngemäss zusammengefasst: Sehr wichtig.
In Australien nennt man solche vorbereiteten Fragen aus dem eigenen Lager «Dorothy Dixer». In den USA ist das Blockieren von Debatten durch Marathon-Reden als «Filibuster» bekannt. Beat Jans (SP) warf der SVP-Fraktion denn auch vor, die Debatte in Filibuster-Manier in die Länge zu ziehen, sodass sie in der laufenden Session nicht mehr fertig beraten wird und in der Konsequenz noch nicht im November zur Abstimmung gelangt. Vogt dementierte dies.
Inzwischen kennt das Parlament das Spiel mit den aufgelegten SVP-Fragen – und hat keine Lust mehr, daran teilzunehmen. So lehnten es zahlreiche Politiker ab, Zwischenfragen zu beantworten. Mit einer erwarteten Diskussionszeit von über acht Stunden und 40 angemeldeten SVP-Rednern habe die Partei genug Zeit, ihre Meinung zu verkünden, sagte etwa SP-Fraktionschef Roger Nordmann. «Es ist nicht unser Problem, wenn Ihr Text so konfus ist, dass Sie so viele Fragen stellen müssen.»
Im Laufe der Debatte entwickelte sich das Frage- und Verweigerungs-Spiel zu einer Art Running Gag. Der Tessiner Marco Romano (CVP) erklärte sich bereit, die Frage von Magdalena Martullo Blocher entgegenzunehmen («Ich bin demokratisch»). Ob sie diese auf Italienisch stellen könne?
Dies werde schwierig, antwortet die Blocher-Tochter. Um dann doch anzusetzen: «Cari amici, ...» Romano korrigiert sie: Das müsse «amico» heissen. Gelächter im Saal.
Für eine Überraschung sorgte CVP-Präsident Gerhard Pfister, indem er seinen Gegenvorschlag zur Initiative zurückzog. Die Mehrheit des Rates scheine nicht diskussionsbereit zu sein und auch die Initianten zeigten keine Bereitschaft, sich zu bewegen, bedauerte er.
Pfister beharrte jedoch darauf, dass das Spannungsverhältnis zwischen «Entscheiden in einer direkten Demokratie, dem Landesrecht und den völkerrechtlichen Normen» ein reales Problem darstelle. Ein Gegenvorschlag wäre aus seiner Sicht eine Möglichkeit gewesen, dieses Spannungsverhältnis zu regeln, indem man die sogenannte Schubert-Praxis in der Verfassung verankert hätte. Diese besagt, dass Völkerrecht grundsätzlich dem Landesrecht vorgeht – ausser das Parlament erlässt bewusst ein völkerrechtswidriges Gesetz.
Die Initiative gibt aus Sicht von Pfister die falsche Antwort auf das Problem. Sie stelle die Menschenrechtskonvention zur Disposition und stelle damit «ein Fundament unserer Rechtsordnung und unserer Werteordnung infrage», kritisierte er. Er gehe darum davon aus, dass das Volk das Begehren «deutlich» ablehnen wird.