Die Bieler fliegen immer höher. Schliesslich erreichen sie den spielerischen Weltraum. Sie führen nach 26 Minuten und 38 Sekunden völlig verdient 3:0. Gegen ein leidenschaftliches, intaktes Lugano mit einem starken Elvis Merzlikins. Gegen ein Lugano, das alles richtig macht und doch keine Chance hat. Es ist Biels beste halbe Stunde seit dem Wiederaufstieg im Frühjahr 2008. Finale, wir kommen!
Aber am Ende verliert Biel 3:6. Wie ist dieser Absturz möglich? Ein Grund, aber nicht der wichtigste: Die Bieler sind einfach zu hoch und zu schnell geflogen und rasen schliesslich über die Landebahn hinaus in den Abgrund. Die Landung, die Rückkehr zu einem «normalen», einfachen, reinen Zweck- und Resultathockey um die 3:0-Führung über die Zeit zu bringen, gelingt nicht mehr.
Oder sind die Schiedsrichter schuld? Wenn fünf der ersten sieben Tore in Unter- oder Überzahl erzielt werden, wird die Spielleitung zum Thema.
Die Szene, die zu reden gibt: Nach 36 Minuten und 32 Sekunden checkt Robbie Earl Luganos Verteidiger Thomas Wellinger beim Stande von 3:2 in die Bande. Er wird unter die Dusche geschickt. Lugano nützt den Ausschluss (plus eine Strafe gegen Beat Forster) zu zwei weiteren Powerplay-Treffern. Lugano hatte bereits das 3:2 im Powerplay erzielt (Ausschluss von Marco Maurer). Als Robbie Earls Strafe abgelaufen ist, steht es 3:4.
Robbie Earl vs Thomas Wellinger, 5+SD Bandencheck @ehcbiel @OfficialHCL pic.twitter.com/j8LHYzs89U
— Kristian Kapp (@K_Krisztian_) 31. März 2018
War das Strafmass gegen Robbie Earl gerechtfertigt?
Regel 119 sagt:
Definition Bandencheck: Ein Spieler, der einen Gegenspieler mit dem Körper oder dem Ellenbogen checkt, ihn angreift oder ihm so das Bein stellt, dass dieser dadurch heftig gegen die Bande geworfen wird.
Die TV-Bilder zeigen zweifelsfrei einen Bandencheck. Also nicht einen Check an der Bande (was erlaubt ist), sondern einen Check gerade soweit von der Bande entfernt, dass der angegriffene Spieler heftig in die Bande geworfen wird. Thomas Wellinger wird dabei leicht verletzt (blutige Wunde am Kopf). Ob er sich in dieser Situation geschickt oder ungeschickt verhält, ob er fällt wie eine Schaufenster-Puppe oder ob er sich hätte auf den Beinen halten können, spielt keine Rolle.
Der Entscheid der Schiedsrichter ist streng, aber richtig. Schliesslich wird immer und immer wieder betont, wie wichtig es sei, die Gesundheit der Spieler zu schützen.
Hat also diese Fünfminutenstrafe die Partie entschieden? Nein. Das Spiel der Bieler trägt zu diesem Zeitpunkt bereits den Keim des Scheiterns in sich.
Das Geheimnis dieser Wende ist eine unheimliche Entschlossenheit Luganos. Die Tessiner liegen wohl scheinbar hoffnungslos 0:3 zurück. Aber eben nur scheinbar.
Der neutrale Beobachter wundert sich zu diesem Zeitpunkt: Die Spieler verraten in ihrer Körpersprache keinerlei Zeichen der Resignation oder der Frustration. Ganz im Gegenteil. Es ist so, als habe Lugano nach dem dritten Gegentreffer beschlossen, nicht zu kapitulieren.
Und tatsächlich gelingt mit einer Bissigkeit und Willensanstrengung sondergleichen in Unterzahl der erste Treffer zum 3:1. Von da an ist Lugano auf einer Mission und lässt nicht mehr locker, bis diese Mission erfüllt ist. Dieser erste Treffer ist der Augenblick der Wende. Nicht der Ausschluss von Robbie Earl.
So wie Biel aus der besten halben Stunde seit dem Wiederaufstieg ein 3:0 gemacht hat, so macht Lugano nach dem 3:1 mit einem «Jahrhundert-Powerplay» drei Treffer (zum 3:2, 3:3 und 3:4). Zur Wende. Zum Sieg. Das 3:4 ist bereits die Entscheidung. Biel verliert den Schwung, die Dynamik und den Mut. Was im Schlussdrittel noch kommt, hat keine Bedeutung mehr. Der fünfte und sechste Treffer ins leere Tor sind bloss für die Statistik.
Luganos Topskorer Maxim Lapierre sagt, man halte sich seit dem ersten Spiel dieser Serie an den «Game Plan» (also an die vom Trainer vorgegeben Taktik). «Wir haben uns davon nicht abbringen lassen und das hat sich nun ausgezahlt.» Seine Aussage bestätigt den Eindruck, dass Lugano nie resigniert, nie die Nerven verloren hat und nie auseinander gefallen ist. Und beschlossen hat, nicht zu kapitulieren.
Der Kanadier wird auch gefragt, ob so eine Wende Glück oder Können sei. Er sagt, es sei wohl beides. So sei eben Eishockey. Wir können anfügen: halt ein unberechenbares Spiel auf rutschiger Unterlage.
Wird sich Biel von diesem Schock erholen? Vieles spricht dafür. Captain Mathieu Tschantré, der mit dieser Mannschaft den langen Weg aus der NLB bis in diesem Halbfinal gegangen ist und schon so manches Drama erlebt hat, wirkt nach dem Spiel enttäuscht, ja fast ernüchtert. Aber keineswegs geschockt. Eher ist es ein fassungsloses Staunen, wie so etwas möglich war. Und eine Gewissheit, dass es einmalig war. Dass ein solches spielerisches Unglück seiner Mannschaft nicht noch einmal widerfahren wird.
Er sagt, wahrscheinlich habe man in der ersten halben Stunde «fast zu gut gespielt». Und sei dann auseinander gefallen. «Ja, wir sind enttäuscht. Aber wir können diese Enttäuschung verarbeiten und wir führen immer noch 2:1. Wir haben es in unserer Hand, diese Serie zu gewinnen.»
Weder Mathieu Tschantré noch einer seiner Mitspieler beklagten sich über die Schiedsrichter. Das ist ein gutes Zeichen. Nur Verlierer jammern über die Schiedsrichter.
Die Bieler sind zu hoch geflogen. So hoch, dass sie am Horizont schon das erste Playoff-Finale ihrer Geschichte erkennen konnten. Aber so gut wie in dieser ersten halben Stunde sind sie nicht.
Die Bieler sind zu tief gefallen. So tief, dass sie schon das vorzeitige Saisonende am Horizont sehen konnten. Aber so schwach wie in der zweiten halben Stunde, so schwach wie es die Wende vom 3:0 zum 3:6 vermuten liesse, sind sie auch bei weitem nicht.
Wie gut sind die Bieler also? Ganz einfach: gut genug, um selbst gegen dieses bissige Lugano das Finale zu erreichen. Allerdings nicht ohne vorher noch ganz gehörig ins Wanken zu geraten. Luganos Kapitulation muss noch sehr, sehr hart erarbeitet werden.