Verrückte Herrscher, die ihr Volk ins Unglück stürzen, sind ein beliebtes Sujet in der Weltliteratur. Shakespeares «King Lear» beispielsweise oder der Elfenbeinhändler Kurtz in Joseph Conrads «Heart of darkness». Die Anzeichen, dass auch Wladimir Putin ein solcher verrückter Herrscher geworden ist, sind unübersehbar geworden. Fiona Hill und Angela Stent titeln ihr jüngstes Essay über den russischen Präsidenten im Magazin «Foreign Affairs» denn auch mit «The Kremlin’s Grand Delusion» (Der grandiose Wahn des Kremls).
Die gebürtige Engländerin Hill war Sicherheitsberaterin bei George W. Bush und Donald Trump, gilt als ausgewiesene Expertin für Russland und hat kürzlich ein Buch über Putin veröffentlicht. Stent ist emeritierte Professorin der Georgetown University in Washington.
Verschiedene Umstände machen verrückte Herrscher möglich und verschiedene Merkmale kennzeichnen sie. Hier ein paar typische:
Hill und Stent zitieren Rene Nyberg, den ehemaligen Botschafter Finnlands in Moskau, wie folgt: «Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich je das Politbüro (das mächtigste Organ der ehemaligen UdSSR) vermissen werde. Doch jetzt gibt es überhaupt keine politische Organisation mehr in Russland, welche die Macht hat, den Präsidenten und Oberkommandierenden zur Verantwortung zu ziehen.»
Putins Macht ist absolut. Das betonen auch Robyn Dixon und Catherine Belton – die Autorin des viel beachteten Buchs «Putins Netz» – in der «Washington Post». Sie zitieren den ehemaligen russischen Diplomaten Boris Bondarew wie folgt: «Die Mitglieder der Elite wissen, dass der Krieg ein Fehler ist, doch sie haben Angst, etwas dagegen zu unternehmen, denn sie haben sich daran gewöhnt, dass Putin alles alleine entscheidet.» Bondarew war bis vor einem knappen Jahr in Genf stationiert und hat den diplomatischen Dienst aus Protest gegen den Krieg verlassen.
Putin gilt als passionierter Historiker, nur nimmt er es mit der Wahrheit alles andere als genau. So bestreitet er das Existenzrecht der Ukraine und stellt die Nato-Osterweiterung als falsch dar. Die Yale-Historikerin Marie Elise Sarotte hat darüber ein Buch verfasst. In der «Financial Times» rückt sie die Fakten zurecht.
Nach dem Kollaps der Sowjetunion war es Boris Jelzin, der sich für eine Zerschlagung des Riesenreichs stark machte. Der damalige russische Präsident wollte nicht auch noch für die Kosten der sogenannten «Stan-Staaten» (Usbekistan, Tadschikistan etc.) aufkommen und forderte deshalb die Satelliten auf, sich selbstständig zu machen.
Die schon lange auf die Unabhängigkeit hoffenden Ukrainer nahmen das Angebot dankend an. 1991 führten sie ein Referendum durch, in dem sich mehr als 90 Prozent der Bevölkerung für die Selbständigkeit aussprachen. Selbst bei den mehrheitlich Russisch sprechenden Menschen auf der Krim und im Donbass kam eine Mehrheit zustande.
Als Putin an die Macht kam, bezeichnete er bekanntlich den Zerfall der UdSSR als «grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts». Gleichzeitig betonte er immer wieder, der Westen und insbesondere die USA hätten Russland hinters Licht geführt. Die Nato habe hoch und heilig versprochen, ihren Einfluss nicht weiter nach Osten auszudehnen und die Sicherheitsbedenken Russlands zu honorieren.
Das stimmt so nicht. Richtig ist, dass James Baker, der damalige US-Aussenminister, und Hans-Dietrich Genscher, der damalige deutsche Aussenminister, eine solche Abmachung mit den Russen diskutierten. Diese Diskussionen waren jedoch stets spekulativ, und sie waren vor allem nicht von den beiden jeweiligen entscheidenden Machtträgern gestützt. Sowohl US-Präsident George H. Bush als auch der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl haben sich nie hinter ein solches Versprechen gestellt. Es existiert auch keine schriftliche Vereinbarung darüber.
Weil die Mär von der angeblichen Zusage, auf eine Nato-Osterweiterung zu verzichten, auch hierzulande grassiert, ist diese Richtigstellung wichtig. Daher nochmals: Der Westen hat diesbezüglich kein Versprechen gebrochen, hingegen tat dies Putin. Die Ukraine hatte nämlich auf ihre nuklearen Waffen verzichtet – sie war damals die drittgrösste Atommacht – und im Gegenzug von Russland und den USA die Zusage erhalten, dass diese für ihre sichere Unabhängigkeit einstehen würden.
Dieses Versprechen hat Putin bereits 2014 mit der völkerrechtswidrigen Invasion der Krim gebrochen, und erst recht jetzt mit der «militärischen Spezialoperation» gegen die Ukraine.
In einem grauenhaften Video wird die Hinrichtung eines angeblichen Verräters der Söldnertruppe Wagner mit einem Vorschlaghammer gezeigt. Anstatt Entsetzen hat dieses Video in Russland Bewunderung ausgelöst. Der Vorschlaghammer ist zum Symbol russischer Entschlossenheit geworden, und Jegweni Prigoschin, der Chef der Söldnertruppe – ein Mann, der einst wegen bewaffneten Raubüberfalls im Gefängnis sass –, gehört zum engeren Kreis um Putin.
Putins «militärische Spezialoperation» richtet nicht nur in der Ukraine unsägliches Leid und Grauen an. Sie brutalisiert auch die eigene Bevölkerung. «Die Gesellschaft ist aus den Fugen geraten», erklärt Sergei Chernyshov, Rektor einer Privatschule in Novosibirsk, gegenüber der «New York Time». «Die Regierenden haben die Vorstellung von Gut und Böse auf den Kopf gestellt.»
Konkret heisst dies, dass wie einst bei der Hitlerjugend oder bei der Komsomol, der Jugendbewegung der Kommunistischen Partei der UdSSR, erneut Kinder indoktriniert und zu einem falschen Patriotismus erzogen werden. Es heisst auch, dass Putin neuerdings einem gespenstischen Todeskult huldigt und den Heldentod feiert. Es sei besser, auf dem Feld als an Leberzirrhose zu sterben, verkündete er kürzlich. Dem Westen wirft er derweil gar «Satanismus» vor.
Gleichzeitig hat Putin den Krieg in der Ukraine zu einem Überlebenskampf Russlands gegen den Westen empor stilisiert. Mit Wolodimir Selenskyj, dem Präsidenten der Ukraine, will er nicht verhandeln, sondern direkt mit Washington. «Sein Ziel bleibt es, ein Abkommen zu erreichen, das 1945 auf Jalta zwischen Stalin, Roosevelt und Churchill abgeschlossen wurde und in dem der Westen die Dominanz Moskaus in Osteuropa akzeptierte», stellen Hill /Stent fest.
An diesem Ziel hält Putin wahnhaft fest, was immer es auch kosten mag. Und es kostet sehr viel. Die Verluste der russischen Armee werden mittlerweile auf gegen 200’000 Mann geschätzt. Rund eine Million vorwiegend gut ausgebildete Menschen haben Russland verlassen, sei es aus Protest gegen den Krieg, sei es aus Angst, eingezogen zu werden.
Auf dem Schlachtfeld hat die russische Armee weitgehend versagt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Präsident seine Generäle schneller auswechselt als der Präsident des FC Sion seine Trainer.
Trotzdem ist Putins zerstörerischer Wahn anscheinend durch nichts zu erschüttern. «Putins Botschaft an die Ukraine und die Welt lautet, dass der Sieg Russland gehören wird und dass Moskau immer gewinnen wird», stellen Hill/Stent fest.
Und zwar besteht die Mitschuld an der heutigen Katastrophe in der Ukraine nicht darin, dass die NATO sich (auf inständiges Bitten ehemaliger "Ostblock"-Länder!) nach Osten ausgdehnt hatte und dass nach der Annexion der Krim Britische Militärberater ukrainische Militärs ausbildeten, sondern darin, dass insbesondere Schröder und Merkel und Co. nach jedem Putin-Russischen Angriffskrieg so getan haben, als sei nichts passiert!
Nordstream II war dann der Gipfel dieser Komplizenschaft...
Also, ich wär dafür zu haben. Damit wir endlich unseren Beitrag leisten für den Frieden im Westen. Jawohl, liebe Neutralitätsromantiker, für den Frieden.