Schon als Kind hat Marco Willener das Gefühl, im falschen Film zu sein. Irgendetwas am Verhältnis zwischen ihm und dem Rest der Welt fühlt sich falsch an. Die Ursache scheint offensichtlich: Marco ist adoptiert. Geboren in Bolivien, wächst er als Sohn eines Tierarztes und seiner Frau im 8000-Seelen-Dorf Belp bei Bern auf.
«Mir war schon als Kind klar, dass ich anders bin», erzählt Mia Willener und nimmt einen Schluck von ihrem Bier. «Ich dachte aber immer, es liege an meiner Hautfarbe.» Wir sitzen in einer Bar in Luzern. Sie ist der Grund, warum sich Marco in seiner Haut nie so richtig wohlgefühlt hat. Denn sie war in seinem Körper und seiner Identität gefangen.
Mia trägt ein schwarz-rotes Kleid und Schuhe mit hohen Absätzen. Wenig an der selbstbewussten Frau erinnert an ihre frühere Identität, den unsicheren Marco. Die 31-Jährige blickt mit gemischten Gefühlen zurück: «Marco war eine komische Person», sagt sie und grinst. Er sei zwar ein Teil von ihr, aber aus einem anderen Leben.
Marcos Jugend ist geprägt von der Suche nach Identität. Während er im Geheimen Frauenkleider trägt, wird Marco in der Jungen SVP aktiv, um seiner Liebe zur Schweiz, die ihm eine Heimat gegeben hat, Ausdruck zu geben. Im Militär macht er nach der Rekrutenschule als Fourier weiter.
«Das war ein Versuch, meine Rolle in der Gesellschaft wahrzunehmen», sagt Mia. «Ich sagte mir: ‹Ich wurde als Bub geboren, ich wurde zum Mann erzogen, also muss ich das machen.›»
Alles ändert sich, als Mia zufällig eine Dokumentation über Claudia Sabine Meier sieht – einer Transgender-Hoteldirektorin. Mia wird auf einen Schlag klar: «Das ist meine Geschichte. Ich erlebe, was sie erlebt hat.» Ein Gefühl der Befreiung und Erleichterung überflutet Mia. Sie spürt: Das ist mein Schicksal.
Im Februar 2012 sucht sie eine Psychologin auf, die sich auf Transgender spezialisiert hat. Sie fasst den Entschluss, künftig als Frau weiterzuleben – und beginnt frühzeitig, ihr Umfeld zu informieren. «Ich sagte meinen Eltern: ‹Tut mir leid, ihr seid verarscht worden. Ihr habt einen Buben bestellt und ein Mädchen bekommen.›» Mia lacht herzhaft.
«Ich habe meinen Eltern zu Anfang erzählt», führt sie aus, «dass ich drei Möglichkeiten habe. Entweder ich mache den Schritt und versuche, das Beste daraus zu machen. Oder ich nehme Medikamente, um meine Psyche zu beruhigen und lande irgendwann in der psychiatrischen Klinik.» Mia hält kurz inne. «Oder ich beende das Ganze sofort und gebe mir die Kugel.» Als Frau weiterzuleben sei wohl der einfachste Schritt gewesen, obwohl auch dies schwierig war. «Es war damals mir selbst gegenüber der ehrlichste.»
Die Eltern reagieren überrascht, unterstützen Mia aber sofort: «Schon ein paar Tage nach dem Gespräch schickten sie mir E-Mails mit unzähligen Links zu Transgender-Webseiten.» Es folgen Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen – Mia arbeitet als Senior Agentin in einem Dienstleistungscenter. «Ich habe jeden meiner 30 Arbeitskollegen in einem persönlichen Gespräch informiert. Bis auf zwei neutrale Reaktionen waren alle positiv.»
Besonders freut Mia die Reaktion eines Freundes, der eher konservativ gesinnt ist. Er sagt nur: «Ah, jetzt chumi drus.» Damit spielt er auf einen Männergeburtstag mit einem anschliessenden Bordellbesuch an. Mia, damals Marco, zeigte kaum Interesse am Angebot und vertrieb sich die Zeit alleine an der Bar. «Am Schluss bin ich aus Gruppenzwang mit einer aufs Zimmer verschwunden und habe zehn Minuten mit ihr geplaudert.»
Mias Umfeld reagiert fast durchwegs positiv auf ihr Coming-Out – bis auf ein paar Facebook-Kontakte, die verloren gehen. Das ist verkraftbar. «Ein Geburtstags-Alert weniger», sagt Mia.
Sie macht interessante neue Bekanntschaften – und lernt ihren Freund kennen. Er ist intersexuell, das heisst, nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. «Das macht mich zwangsläufig bisexuell», sagt Mia mit ihrem trockenen Humor. Die Beziehung sei relativ normal, obwohl sie schon ihre Tücken habe. Das veranschaulicht Mia so:
«Nach aussen wirken wir wie ein normales Hetero-Paar. Vor meinem amtlichen Namenswechsel waren wir aber theoretisch ein homosexuelles. Da mein Freund aber auch teils weiblich ist, gingen wir damals ebenfalls als Hetero-Paar durch, aber genau umgekehrt als es den Anschein machte. Und nach dem Namenswechsel wären wir somit ein lesbisches gewesen. Irgendwann sagst du einfach: So what! Wir sind zwei Menschen, basta.»
Neben der psychologischen Begleitung beginnt Mia auch eine Hormonbehandlung. Zwei Tabletten am Tag, um die Testosteronproduktion einzudämmen, ein Pflaster, um die körpereigene Produktion von Östrogen zu fördern. Für eine solche Therapie gibt es keine spezifischen Medikamente – man setzt andere Mittel ein, die wegen ihrer Nebenwirkungen den gewünschten Effekt erzielen. Man spricht dabei von einer Off-Label-Behandlung.
Eine Operation möchte Mia auch vornehmen – aber frühestens in fünf Jahren. Sie sei noch nicht bereit dafür. Die Prozedur ist sehr sicher, aber es könne immer etwas passieren. «Ich bin endlich an einem Punkt, an dem ich ich selbst sein kann. Das möchte ich noch ein bisschen geniessen und nicht auf einem Operationstisch krepieren. Das würde mich richtig anscheissen», sagt sie und lacht.
Doch schon das Coming-Out und die Hormone lösen viel aus: «Ich fühle mich grossartig, ich fühle mich frei», sagt Mia. «Für mich ist das Leben jetzt so, wie es für andere von Anfang an war.» Sie habe 25 Kilo abgenommen, einfach nur, weil sie zufrieden sei. Früher versuchte sie, ihren Frust mit Fressattacken zu bewältigen. Das sei jetzt vorbei.
«Auch meine Persönlichkeit und meine Weltsicht haben sich verändert. Viel stärker, als ich erwartet hatte», sagt Mia. Aus der Jungen SVP ist sie ausgetreten, weil sich diese nicht mit dem neuen Weltbild vereinbaren lässt. Die Grünliberalen sind nun ihre erste Wahl.
Politisch aktiv ist Mia immer noch: Seit März dieses Jahres sitzt sie im Vorstand des Vereins «Transgender Network Switzerland» (TGNS) und ist zuständig für die Einflussnahme in der Politik. An der Zurich Pride (siehe Infobox) wird sie an einem Stand vertreten sein.
Zusammen mit der FDP-Nationalrätin und Alecs Recher von der Rechtsberatung von TGNS Doris Fiala hat Mia eine Interpellation ausgearbeitet: Der Bundesrat soll prüfen, inwiefern die Resolution 13742 des Europarates in der Schweiz anwenden lässt. Es geht um die Gleichstellung von Trans-Menschen.
Die Arbeit ist noch lange nicht getan: Mias Ziel ist es, dass 2019 zwei Trans-Menschen in den National- oder Ständerat gewählt werden. Ob sie selbst kandidiert? «Ich will mich nicht aufdrängen», sagt sie in Christoph-Blocher-Manier und lächelt verschwörerisch.
Ob als Strippenzieherin im Hintergrund oder an vorderster Front – Mia hat eine Vision: «Ich möchte die Welt ein bisschen verbessern», sagt sie. «Ich möchte etwas bewirken, von dem auch die Menschen der folgenden Generationen profitieren können.»