Zwischen Jets und Raiders herrscht eine erbitterte Rivalität. Beide sind hervorragend in die Saison gestartet und gelten als Anwärter für den Triumph im Super Bowl. Letztlich werden ihn die vom legendären Quarterback Joe Namath angeführten New York Jets denn auch gewinnen, 16:7 gegen die Baltimore Colts.
Doch an diesem Sonntag in der Regular Season haben die Raiders zuhause in Oakland das bessere Ende für sich. Sie gewinnen in einem dramatischen Endspurt, den im östlichen Teil der Vereinigten Staaten jedoch niemand sieht – weil dort bereits der Blockbuster «Heidi» gezeigt wird.
Dem TV-Sender NBC ist sehr wohl bewusst, dass die Footballpartie ein Strassenfeger ist. Aber noch mehr setzt es auf den Film mit dem herzigen Mädchen in den Schweizer Alpen. In den Tagen vorher wird kräftig die Werbetrommel gerührt, das Fernseh-Highlight des Wochenendes soll pünktlich um 19 Uhr New Yorker Zeit ausgestrahlt werden.
Da das Footballspiel drei Stunden vorher beginnt, sollte es keine Probleme geben. So lange dauert eine Partie damals nie. Doch im Oakland Coliseum kommt alles zusammen, was aus Sicht der TV-Macher nicht zusammenkommen sollte. Einerseits punkten die beiden Teams fleissig, andererseits leisten sie sich aber auch viele Fehler – die beiden Quarterbacks kommen gemeinsam auf 31 Incomplete Passes. Auch wegen Verletzungen und insgesamt 19 Strafen muss die Partie häufig unterbrochen werden.
Und so wird irgendwann klar: Es wird eng, damit das Vorhaben von NBC aufgeht. Aufgeregt telefonieren die Fernseh-Bosse hin und her. In einer Zeit, in der es keine Mobiltelefone gibt und Spiele noch nicht mittels Satellitentechnik übertragen werden und in einem Land, das sich zwischen West- und Ostküste über 5000 Kilometer erstreckt, ist die Koordination des Entscheids auch eine technische Herausforderung.
Nach drei Vierteln haben die Raiders einen knappen Vorsprung, sie liegen mit 22:19 in Führung. Ein packender Schlagabtausch setzt nun ein. Erst gehen die Jets nach einem 97 Yards langen Drive in Front, dann schlagen die Raiders zurück. Knapp vier Minuten vor dem Ende steht es 29:29 – die Spannung in diesem Spitzenspiel könnte nicht grösser sein.
Um etwa 18.45 Uhr telefonieren Produktionsleiter Dick Cline und NBC-Sportchef Don Connal ein weiteres Mal miteinander. Sie sind sich einig, dass die Partie um 19 Uhr noch nicht beendet sein wird und dass der Sender sie bis zum Schluss zeigen sollte. Doch den Entscheid darüber kann nur einer fällen: Julian Goodmann, der Präsident des Senders. Im Vorfeld hat er klar gemacht, dass «Heidi» in jedem Fall pünktlich beginnen muss, doch nun gibt Goodman nach. Der Film beginnt erst, wenn das Footballspiel vorbei ist.
Eine gute Minute ist noch auf der Uhr, als Jim Turner mit einem Field Goal die Jets in Führung schiesst. Es ist die letzte Aktion, welche die Fernsehzuschauer im Osten der USA sehen. Danach hüpft ein fröhliches Mädchen über Bündner Wiesen.
Denn die Kommunikation zwischen den TV-Bossen klappt nicht. Ständig sind die Telefone besetzt. So hält sich Produktionsleiter Cline an die Weisung, die ihm im Vorfeld eingetrichtert worden ist. Nicht wissend, dass Präsident Goodman eine Verschiebung des Filmstarts bewilligt hat, wird die Übertragung der Partie abgebrochen.
Der Stecker ist gezogen – und zahlreiche Fans sind ausser sich. Erbost rufen sie beim Sender an und legen sämtliche Telefonleitungen lahm. «Männer, die sich nicht einmal bei einem Erdbeben aus ihrem Fernsehsessel erheben würden, schnellten hoch, um am Telefon Obszönitäten loszuwerden», stellt Komiker Art Buchwald fest.
Und da wissen die Zuschauer noch nicht einmal, worum sie gerade betrogen wurden. Den Oakland Raiders gelingen tatsächlich noch zwei Touchdowns innerhalb von neun Sekunden. Sie sorgen für eine dramatische Wende und gewinnen 43:32.
Von den aufregendsten zwei Minuten Football, die sie je gesehen hätten, berichten die TV-Kommentatoren Curt Gowdy und Al DeRogatis – um von ihrem Aufnahmeleiter Don Ellis ein sarkastisches «Zu schade, dass Amerika es nicht sehen konnte» zu hören; wobei «nur» die östliche Hälfte des Landes betroffen ist.
NBC macht alles noch schlimmer, indem es auch die «Heidi»-Fans verärgert. Just in der Szene, als die an den Rollstuhl gefesselte Klara auf wundersame Weise wieder einige Schritte gehen kann, blendet der Sender gross das Ergebnis des Spiels ein. Die Footballfans sind nun noch hässiger, weil sie Grosses verpasst haben. Und die Filmfans sind angefressen, weil der Sender ihnen eine herzergreifende Szene versaut hat.
Die Sendepanne hat weitreichende Änderungen zur Folge. So installiert NBC in der Folge erstmalig eine Zuschauer-Hotline, damit die regulären Telefonverbindungen des Senders künftig nicht mehr zusammenbrechen. Und die NFL ergänzt ihre TV-Verträge mit dem Passus, wonach Partien in voller Länge zu zeigen sind und nicht frühzeitig aus der Übertragung ausgestiegen werden kann.
1997 wird das «Heidi Game» als eine der zehn denkwürdigsten NFL-Partien gewählt und als denkwürdigstes Spiel einer Regular Season überhaupt. 2005 schafft es das Fiasko auf Rang 6 einer Hitliste der «100 überraschendsten Momente der Fernsehgeschichte». Und die vielleicht schönste Anekdote liefert Jennifer Edwards, die «Heidi»-Darstellerin: «Auf meinem Grabstein wird dereinst wohl stehen: ‹Sie war ein grosser Sport-Moment.›»