Der nächste Verwandte des modernen Menschen, des Homo sapiens, ist nach derzeitigem Kenntnisstand der Neandertaler. Sowohl der Homo sapiens wie der Homo neanderthalensis stammen vom Homo erectus ab; beide lebten während Jahrtausenden nebeneinander und vermischten sich zum Teil.
Doch ein Schädel, der in China gefunden wurde, könnte die aktuelle Lehrmeinung umkrempeln. Dies behauptet zumindest eine internationale Forschungsgruppe um Xijun Ni und Qiang Ji von der chinesischen Hebei Geo University. Für sie ist das Fundstück das Fossil einer neuen Spezies der Gattung Homo – Homo longi, deutsch «Drachenmensch», in Anlehnung an den Fundort in Long Jiang («Drachenfluss»), eine andere Bezeichnung für die Provinz Heilongjiang.
Der Schädel wurde bereits vor etwa 88 Jahren während der japanischen Besetzung in der Stadt Harbin gefunden und dann versteckt. Erst die Enkel des Finders übergaben das Fossil vor drei Jahren den Wissenschaftlern. Diese ungewöhnliche Entdeckungsgeschichte verunmöglicht es leider, die Fundstätte und -schicht zu analysieren.
Dennoch gelang es den Paläontologen, die ihre Ergebnisse in drei Studien in der Fachzeitschrift «The Innovation» publizierten (siehe Infobox unten), das Alter des Schädels anhand kleinster Erdpartikel auf mindestens 146'000 Jahre zu bestimmen. Er dürfte von einem etwa 50-jährigen Mann stammen, der wahrscheinlich als Jäger und Sammler lebte.
Der Schädel – nach Aussage von Ji «eines der vollständigsten menschlichen Schädelfossilien der Welt» – weist Ähnlichkeiten mit jenen des Homo sapiens, des Neandertalers und der Denisova-Menschen auf. Letztere sind eine Schwestergruppe des Neandertalers, die in Eurasien lebte. Wie beim Homo sapiens sei das Gesicht des Schädels – der etwa so gross sei wie ein Schädel eines modernen Menschen – eher kurz und flach und weise kleine Wangenknochen auf.
Hingegen sei die Schädeldecke von Homo longi länger und flacher. Dies weise zusammen mit den kräftigen Knochenwülsten über den Augen, den tiefen Augenhöhlen und den grossen Backenzähnen auf eine ältere Menschenart hin.
Die Klassifizierung als neue Menschenart, die sich in der Bezeichnung Homo longi widerspiegelt, ist freilich umstritten. Selbst im Team der Forscher, die aus China, Australien und England stammen, herrscht diesbezüglich keine Einigkeit. Während Ji betont, der Schädel weise eine Kombination von primitiven und modernen Merkmalen auf und unterscheide sich klar von den bisher bekannten Vertretern der Gattung Homo, vertreten andere Studienautoren die Ansicht, der Schädel gehöre zur Abstammungslinie des Denisova-Menschen. Sie nennen den Schädel daher vorsichtig Harbin cranium («Harbin-Schädel»).
Auch weitere Wissenschaftler zeigen sich eher skeptisch. So ist auch Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig der Meinung, der Schädel sei eher der Abstammungslinie der Denisova-Menschen zuzuordnen, wie er der «Süddeutschen Zeitung» sagte.
Diese Population wurde vor zehn Jahren lediglich aufgrund von genetischen Analysen als dritte Menschenform neben Neandertaler und Homo sapiens entdeckt. Denisova-Menschen lebten bis vor 76'000 bis 52'000 Jahren im südlichen Sibirien und vor rund 160'000 Jahren in Tibet. Es gibt bisher nur wenige Funde dieser Population, die sich mit Neandertalern und auch Homo sapiens vermischt hat – Spuren ihres Erbguts konnten in verschiedenen Völkern in Ostasien und Australien nachgewiesen werden.
Ebenfalls umstritten ist die Frage, ob es sich beim Homo longi um eine Schwesterart des Homo sapiens handelt, die enger mit diesem verwandt ist als mit dem Neandertaler. Auch hier vertreten Ji und einige Kollegen eine offensivere Linie als andere an den Studien beteiligte Wissenschaftler. So hält es der britische Anthropologe Chris Stringer vom Nature History Museum in London, der an zwei der Studien mitarbeitete, zwar für möglich, dass der Drachenmensch dem Homo sapiens näher steht. Stringer betont jedoch, dies sei nicht bewiesen und vorerst nur eine Hypothese.
Klärung über den Ort, den Homo longi im Stammbaum der Gattung Homo richtigerweise einnehmen soll, könnten möglicherweise genetische Analysen von Proben aus dem Schädel bringen. Solche Untersuchungen sind bisher nicht durchgeführt worden, sollen aber in den nächsten Jahren erfolgen.
Allerdings ist nicht klar, ob solche Analysen überhaupt zu Resultaten führen werden, denn der Schädel ist mindestens 146'000 Jahre alt und überdies mehr als 80 Jahre in einem Versteck aufbewahrt worden. Je nachdem, welchen Einflüssen das Fossil dort ausgesetzt war, könnte dies genetische Untersuchungen erschweren oder gar verunmöglichen. (dhr)