Skifahrer sind keine Langschläfer. Um sechs Uhr früh fährt das erste Detachement mit der Gondel hoch auf 3500 Meter. Der Berg ruft. Es ist empfindlich kalt und erstaunlich dunkel, wenn die Trainer die ersten Löcher in den Gletscherschnee bohren, um für Wendy Holdener, Michelle Gisin oder Daniel Yule anspruchsvolle Slalom- und Riesenslalom-Kurse auszustecken. Die Sonne mag dem Tempo des Schweizer Skiteams nicht ganz folgen.
Lange bevor die Bahn für das touristische Sommerskivergnügen öffnet, herrscht bereits reges Treiben an der Talstation. Gruppenweise kommen die Rennfahrer aus der Schweiz, Österreich, Deutschland, Frankreich, Italien, Norwegen, Polen, Slowenien, Finnland, Kanada oder England mit Sack und Pack an – Corona-bewusst mit Gesichtsmaske. Die Disziplin der Sportler ist vorbildlich.
Saas Fee ist nicht nur in der ersten Septemberwoche das Trainingsmekka des Skisports. Dem Klimawandel geschuldet gibt es im Hoch- und Spätsommer im ganzen Alpenraum nur noch zwei Gletscher, die den Ansprüchen eines professionellen Skitrainings genügen. Beide liegen in der Schweiz, in Saas Fee und Zermatt.
Der Gletscherschwund ist auch bei den deutschen Freestyle-Snowboarder in der Gondel ein Thema. Vor zwei Jahren sei hier noch Eis gewesen, erklärt der Trainer seinen Athleten mit Blick auf eine imposante Felsnase. Es sei schon krass mit dem Klimawandel, antwortet einer der coolen Jungs. Für einen kurzen Moment herrscht Schweigen in der geschwätzigen Gruppe. Auf dem Gletscher ziehen Skitöffs die Alpinen nach dem Schlepplift noch einige Höhenmeter rauf zum Start der Rennstrecke. Kein Meter Piste wird oben verschenkt, wenn es unten immer kürzer wird.
Nach drei Wochen Zermatt und einer kurzen Phase mit Heimtraining ist es für Wendy Holdener seit längerem wieder das erste Trainings in Saas Fee. Rund 60 Gletschertage werden es bis Saisonstart sein. Nicht ganz ohne. «Wegen der Höhe sind die Trainings klar anstrengender», sagt Holdener, «man kann nicht gleich viele Läufe machen wie in tieferen Lagen».
Eintönigkeit kommt bei der Innerschweizerin nicht auf. «Es bereitet mir derzeit so richtig Spass. Da ich noch nicht alle Pisten im Griff habe, ist mein Antrieb gross, es besser zu machen», sagt Holdener.
Für die Touristen bleibt an diesem Tag kaum Platz auf dem Schnee. Die Rennfahrer stehen Schlange. Alleine Swiss Ski ist mit gut 40 Athletinnen und Athleten und ebensovielen Betreuern auf dem Gletscher. Dazu kommen Dutzende anderer Nationen. Sieben Kurse sind auf der rund 50 Meter breiten Piste nebeneinander ausgesteckt – vom Slalom bis zum Super-G. «Grenzwertig», findet Frauen-Cheftrainer Beat Tschuor.
Die Schweiz hat beim Gletschertraining Heimvorteil. Sie kann die Anzahl Trainingstage und Pisten reservieren. Erst danach dürfen die anderen Nationen die restlichen Schneebänder unter sich aufteilen. Aus reinem Patriotismus wird dieser Heimvorteil nicht offeriert. Der Bund entschädigt im Rahmen des nationalen Sportanlagenkonzepts (Nasak) die Bergbahnbetreiber grosszügig.
Dies führt dazu, dass etwa die begehrte Abfahrtspiste auf dem Theodulgletscher in Zermatt während sechs von insgesamt acht Wochen exklusiv dem Schweizer Team zur Verfügung steht. Swiss Ski gewährt bisweilen anderen Teams Gastrecht, oft im Austausch mit interessanten Gegenleistungen. Etwa dem Trainingsrecht auf den nächstjährigen WM-Pisten in Cortina. Disziplinenchef Walter Reusser sagt, dass es «vielmehr eine gute Zusammenarbeit als eine Dealerei ist». So teilt man sich etwa im Europacup die Trainer gemeinsam mit Deutschland.
Ein wenig anders präsentiert sich die Situation in Saas Fee. Hier hat seit dem Winter 2018/2019 ein zweites Team eine Art Heimrecht. Damals übernahm Österreichs langjähriger Skiverbands-Präsident Peter Schröcksnadel die Aktienmehrheit der Bergbahnen. Nun ist das Gletscherskigebiet quasi in österreichischer Hand und die Skistars im rot-weissen Renndress teilen sich die besten Pisten mit den Schweizern. Zu welchen Konditionen weiss auch Walter Reusser nicht.
Zurück auf die Piste. Dort beendet die eben erst von einem Kreuzbandriss genese Technikspezialistin Aline Danioth den letzten Trainingslauf kurz vor Mittag mit einem herzhaften Juchzer. Ihre Lust auf den Winter ist gross. Sie ist zumindest bei diesen illustren Gletscherarbeitern in guter Gesellschaft.
Was da für jedes Weltcuprennen an Material und Leuten durch die Weltgeschichte geflogen wird... Und wenn es mal zu wenig Schnee hat, dann wird er eben mit dem Helikopter hingeflogen.