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Mittelmeer: Mehr tote Flüchtlinge im 2019

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Flüchtlingsboot vor der Küste Libyens – in den ersten drei Wochen sind 200 Menschen bei der Überfahrt gestorben. Bild: AP/AP

2019 und das Sterben geht weiter – das musst du zur Situation auf dem Mittelmeer wissen   

21.01.2019, 19:1822.01.2019, 10:55
William Stern
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Der Notruf ging am Freitagmorgen ein. Ein Aufklärungsflugzeug sichtete das leckende Gummiboot 45 Seemeilen vor der Küste Libyens und kontaktierte die Küstenwachen in Italien, Tunesien und Libyen.

Italien erklärte daraufhin Libyen für zuständig, die libysche Küstenwache schickte ein Schiff los, das aber nach kurzer Zeit wegen eines Motorschadens wieder umdrehen musste. In der Folge antwortete die libysche Notfallzentrale laut NGOs nicht mehr.

Das Schlauchboot ging am Freitagnachmittag in den Fluten unter. Drei Personen konnten am Freitagabend schliesslich von der italienischen Marine gerettet werden, 117 Menschen ertranken, darunter ein Dutzend Frauen und zwei Kleinkinder.

Ein Tag zuvor war zwischen Marokko und Spanien ein Flüchtlingsboot mit 54 Menschen an Bord gesunken, ein einziger Mann konnte von einem Fischerboot gerettet werden.

Das Mittelmeer soll dicht gemacht werden, sodass Flüchtlingsboote gar nicht erst von der libyschen Küste ablegen: Das war das Versprechen, das die Europäische Union im Sommer 2018 machte. Die libysche Küstenwache, ausgestattet mit finanziellen Mitteln der EU, soll die Seenotrettung im Mittelmeer übernehmen. 

Die Zahlen

2018 sind die Zahlen auf den Mittelmeerrouten stark zurückgegangen. Erreichten 2017 laut dem Flüchtlingshilfsewerk UNHCR noch 172'301 Menschen die EU-Grenze, sank diese Zahl ein Jahr später auf 138'882. Auch die Zahl der Todesfälle sank von 3139 auf 2275.

In diesem Jahr ist sind bei der Überfahrt übers Mittelmeer bereits 200 Menschen ums Leben gekommen. Im gleichen Zeitraum starben letztes Jahr 202 Menschen, 2017 waren es 234 und 2016, ein halbes Jahr nach der sogenannten Flüchtlingskrise, starben 179 beim Versuch, die europäische Küste zu erreichen. 

Bild
bild: IOM

Auch die Zahl der Menschen, die die Überfahrt geschafft haben, nahm nicht merklich ab. 4216 Menschen haben in den ersten drei Wochen des neuen Jahrs europäischen Boden erreicht, im ganzen Januar-Monat 2018 waren es 7167.

Die NGOs

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Die Sea-Watch-3 vor der Küste Maltas ist das letzte NGO-Rettungsschiff, das aktuell im Mittelmeer unterwegs ist.Bild: AP/AP

Nachdem Italien unter seinem neuen Innenminister Matteo Salvini im Juni die Häfen für Flüchtlingsschiffe geschlossen hatte, fehlen den NGO-Schiffen die Anlaufstellen.

Sinnbildlich dafür war der Fall der beiden Schiffe «Sea-Watch 3» und «Professor Albrecht Penck». Von Mitte Dezember bis Mitte Januar sassen 49 Migranten auf den zwei NGO-Schiffen fest, weil weder Italien noch Malta die Erlaubnis gaben anzulegen. Das Drama nahm erst ein Ende, als Valetta einlenkte, im Gegenzug aber die Zusicherung einholte, 249 bereits in Malta befindliche Migranten auf EU-Staaten zu verteilen.

Mittlerweile kreuzt nur noch die Sea-Watch 3, ein von einer deutschen Crew betriebenes und unter niederländischer Flagge fahrendes Schiff, zwischen Italien und der nordafrikanischen Küste. Der Sprecher von Sea-Watch, Ruben Neugebauer, sagte im Gespräch mit watson, dass Europa seiner Verantwortung im Mittelmeer längst nicht mehr nachkomme. «Hier wird europäische Migrationspolitik auf dem Rücken von Flüchtlingen gemacht.» 

Für Italiens Innenminister Salvini ist klar, dass die NGO-Schiffe einen sogenannten Pull-Faktor bewirken. Joel Millmann, Sprecher der zwischenstaatlichen International Organisation for Migration IOM weist diese Behauptung zurück: «Ich glaube nicht, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Zahl der NGO-Schiffe und der Migranten, die sich auf den Weg machen.» Ohnehin sei nach Seenotrecht jedes in der Nähe befindliche Schiff verpflichtet, in Not geratenen Schiffen beizustehen.

Die Situation in Libyen

In den letzten Tagen legten wieder mehr Schiffe von der libyschen Küste ab, trotz den ungünstigen Wetterbedingungen, die im Januar im zentralen Mittelmeer herrschen. «Die hohen Wellen und der starke Wind gefährden die oftmals kleinen, nicht-Hochsee-tauglichen Boote», sagt IOM-Sprecher Millmann. 

Dass dennoch so viele Migranten die Überfahrt wagen, dürfte einerseits mit den Zuständen in den libyschen Auffanglagern zu tun haben, die laut Berichten jeglicher Beschreibung spotten.

Italienische Medien spekulierten am Wochenende, dass die politischen Verhältnisse in dem krisengeschüttelten Land dazu beigetragen haben. Der Maghreb-Staat hat seit dem Sturz des Diktators Muammar Ghaddafi im Jahr keine funktionierende Regierung, verschiedene Milizen kämpfen um die Vormacht.

Die Instabilität in Libyen wirkt sich auch auf die Marine aus, die mit dem Löwenanteil der Seenotrettung betraut wurde. Für den Migrations-Experten Raphael Bossong von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik SWP steht fest: «Die libysche Küstenwache ist nur eingeschränkt in der Lage, das Mittelmeer abzusichern.»

Trotzdem setzten Italien und die EU weiter auf die Strategie, die fragile Einheitsregierung zu unterstützen – erkauft werde dieser Deal unter anderem mit den katastrophalen Bedingungen, unter denen Migranten von Schleppern in libyschen ‹Warehouses› gehalten werden, so Bossong. 

Die Spanien-Route

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Nachdem die Route zwischen Marokko und Spanien lange als dichtgemacht galt, kam es infolge der Vereinbarung mit Libyen Mitte 2018 wieder zu einem Anstieg der Überfahrten. 2019 explodierten die Zahlen gar: «In den ersten 20 Tagen 2019 kamen so viele Menschen wie 2018 in den ersten drei Monaten», sagt IOM-Sprecher Millman. Millman führt das auch auf die katastrophalen Bedingungen in Libyen zurück. «Viele Migranten werden sich sagen: Es ist einfacher und sicherer von Marokko aus die Überfahrt zu wagen, als in libyschen Schlepperhäusern unter katastrophalen Bedingungen auszuharren.»

Wie geht es weiter?

Während die Aufarbeitung der beiden Unglücksfälle noch dauert, rettete die Sea-Watch am Wochenende 47 Menschen aus Seenot. Zwei Tage zuvor wurden im Mittelmeer 68 Menschen von der italienischen Küstenwache aufgegriffen.

Ob die Zahlen dieses Jahr wieder ansteigen, bleibt offen. Migrations-Experte Bossong bezweifelt es:  «Ich gehe nicht davon aus, dass es 2019 zu einem plötzlichen Anstieg kommen wird. Ich rechne eher mit einem stetigen Strom, sodass wir schlussendlich vielleicht auf eine Zahl von 100'000 Migranten kommen.»

Dass die Wahrscheinlichkeit, im Mittelmeer zu sterben, im Vergleich zu 2018 und 2017 stark gestiegen ist, führte bislang nicht zu nennenswertem politischem Protest in europäischen Ländern. Bossong beobachtet eine Apathie beim Thema Migration : «Die öffentliche Meinung ist in praktisch allen Ländern Europas vollkommen abgestumpft. Und eine Trendwende ist trotz den jüngsten schrecklichen Ereignissen nirgends wahrzunehmen.»

An Claus-Peter Reisch soll ein Exempel statuiert werden

Video: watson
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94 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Muselbert Qrate
21.01.2019 19:50registriert September 2018
Diese illegalen Wirtschaftsflüchtlinge und deren Schlepper/NGO’s handeln im grössten Masse verantwortungslos! Die schicken bei solchen Temperaturen sogar Kinder mit Booten auf das offene Meer und machen danach die EU dafür verantwortlich. Ich finde das schlimm!
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reaper54
21.01.2019 19:42registriert März 2015
Diese Personen kommen praktisch alle aus wirtschaftlichen Gründen ohne Papiere nach Europa. Wirtschaftsflucht ist kein Asylgrund, ohne Gültige und anerkannte Dokumente inklusive entsprechende Visa nach Europa zu reisen ist ebenfalls illegal. Diese Individuen nutzen nur unsere Sozialsystem aus. In die Situation in Lybien haben sie sich freiwillig begeben. Wiso hier auf Mitleid gemacht wird kann ich echt nicht nachvollziehen.
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AquaeHelveticae
21.01.2019 21:52registriert September 2018
Würden die NGO Schiffe endlich anfangen die Schiffbrüchigen, welche sie vor der Libyschen Küste gerettet habe, nach Marokko, Algerien, Tunesien oder Ägypten zu bringen wäre allen geholfen.
Sinnlose Wartezeiten vor Europäischen Häfen könnten vermieden und somit mehr Migranten gerettet werden. Sollte dies konsequent angewendet werden würden langfristig auch weniger Menschen eine solche Fahrt riskieren oder zumindest wieder auf seetüchtige Schiffe setzen, da sie sich nicht mehr auf die NGOs verlassen können.
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