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Stéphane Lambiel ist allein, und Cheeta wohnt im Altersheim

Männliches Schneewittchen-Dornröschen: Stéphane Lambiel schläft auf dem Eis.
Männliches Schneewittchen-Dornröschen: Stéphane Lambiel schläft auf dem Eis.Bild: KEYSTONE
Neue Dokumentarfilme aus Nyon

Stéphane Lambiel ist allein, und Cheeta wohnt im Altersheim

In Nyon ist das Dokumentarfilmfestival «Visions du Réel» eröffnet. Es gibt da vergnügliche Einsichten in das pralle Leben alter Damen. Und der Schweizer Christian Frei besucht liebeskranke New Yorker.
25.04.2014, 22:2812.05.2015, 18:22
Simone Meier
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Es sieht für Stéphane Lambiel, den zweifachen Eiskunstlauf-Weltmeister, auch nicht besser aus als für jeden anderen, der des Berufs wegen reist: Hotelzimmer sind immer und überall eine Ansammlung von grauen, beigen und im Idealfall noch taubenblauen Flächen. Es scheint, als seien sie so gemacht, damit man sie schnell wieder vergisst, irgendwo in einem Nebel der ungenauen, ungeliebten Erinnerungen. 

Stéphane Lambiel ist auf seinen Reisen für «Art on Ice», bei denen ihn die Schweizerin Carina Freire begleitet, jung, klein und allein, und man fragt sich: Hat er Freunde? Hat er einen Freund? Oder nur seine «petite maman», mit der er täglich telefoniert aus Japan, Russland, wieder Japan, wo ihn die Menschen für einen Gott der Pirouetten halten und seinetwegen selbst weit reisen. «Ich mag es nicht, älter zu werden», sagt er. «Ich möchte am liebsten immer ein Kind bleiben. Wenn man reist, ist man viel mehr Kind als zuhause, wo man andauernd Verpflichtungen hat.» Ach je.

Im Flugzeug, im Zug, im Bus, im Hotel schaut er sich Fotos von seiner Katze an. Eines seiner Hobbys ist: Socken sortieren. Es nervt ihn, dass sein Körper mit 29 nicht mehr die gleiche Spannung hat wie mit 18. Für die Gesichtsspannung trägt er gerne Masken. Auf dem Eis sinkt er einschlafend zu Boden, ein männliches Schneewittchen-Dornröschen. Der Rührungsfaktor von «Le petit prince au pays qui défile» ist gross, Carina Freire gelingt es, die Tristesse des Starseins einzufangen und zu steigern. Nach dem 34-minütigen Dokumentarfilm, der enorm nah am Reality-TV ist, wird wohl jedes Schweizer Grosi den Stéphane adoptieren wollen und die Schwulen werden Schlange stehen durch Lausanne, wo er wohnt, falls sie das nicht jetzt schon tun.

Ob Lambiels Maske nützt?
Ob Lambiels Maske nützt?Bild: Visions du Réel

Aber man weiss ja einfach nichts über sein Liebesleben und wird es wohl noch lange nicht wissen. Denn Stéphane schweigt. Bloss auf einem Ferienfoto ist der Schatten eines Mannes zu sehen, der definitiv nicht er ist. Ein herziger Film. So fängt man Fliegen. Oder auch ganz anderes. Alten Damen zum Beispiel.

Volleyball mit 98

Ausschnitt aus «Le petit prince au pays qui défile»

Es ist Donnerstagabend, als die «Visions du Réel» – das grosse, internationale und einst arme Dokumentarfilmfestival in Nyon – inoffiziell eröffnet werden. Und weil dies schon zum 45. Mal geschieht (zum 20. Mal unter dem aktuellen Namen) und das Festival heute ein paar grosse Sponsoren hat, gibt es jetzt eben diese Voreröffnung für die Bevölkerung der kleinen Stadt am Genfersee und Festivaldirektor Luciano Barisone sagt: «Wir befinden uns im Frühling, der Zeit der Jugend, der Versprechen, des Lebens» und gerade deshalb werde jetzt ein Film über sehr alte Frauen gezeigt. Damit auch zarte Jungpflanzen wie Stéphane Lambiel sehen, dass das Alter nicht nur aus Schrecken besteht.

Trailer zu «The Optimists»

Es handelt sich bei «The Optimists» der Norwegerin Gunhild Westhagen Magnor um einen geradezu schockartig einschlagenden Publikumshit, aber was soll man auch machen, ausser Tränen zu lachen? Die 98-jährige Goro, die 89-jährige Eldbjord, die 88-jährige Lillemor und ein paar höchstens 20 Jahre jüngere Freundinnen spielen nämlich seit 30 Jahren zusammen in einem Volleyballclub, und jetzt steht ihr erstes Turnier gegen beinah so alte Herren aus Schweden an. Das ist schon als Versuchsanlage sehr lustig und in der Durchführung erst recht, denn den Damen ist jener typisch skandinavische, stets leicht anarchisch angehauchte Einfallsreichtum zu eigen, den wir bei Pippi Langstrumpf so lieben.

Wie real ist diese Realität?

Der Regisseurin, die «The Optimists» aus einer Lebenskrise heraus gestartet hatte, sind jedenfalls während der Dreharbeiten aus lauter neu entfachter Lebensfreude prompt zwei Kinder entschlüpft. Und deshalb ist sie jetzt zuhause und nicht in Nyon. Goro wiederum ist kurz vor ihrem 100. Geburtstag gestorben. Sie hat bis zuletzt in ihrem Haus gelebt sowie bis zwei Wochen vor ihrem Tod Volleyball gespielt und war dabei sehr glücklich.

Natürlich ist die Frage bei Dokumentarfilmen wie auch beim Reality-TV stets: Wie sehr wurde an der hier abgebildeten Realität herumgeschraubt? Wie sehr ist sie «gescriptet»? Wie sehr überhaupt erst für das Vorhaben des Films hergestellt? Wie wahr ist das? Wie stilisiert? Sind die Norwegerinnen wirklich so unwiderstehlich «saftwurzelig»? Und die Polinnen in «Maximum Pleasure» von Katarzyna Trzaska etwa tatsächlich so schamlos shoppingsüchtig?

Schöner Shoppen in Polen!
Schöner Shoppen in Polen!Bild: Visions du Réel

Ausschnitt aus «Maximum Pleasure»

Trzaska hat nämlich in einem kleinen Dorf ein paar ebenfalls alte Damen entdeckt, die gegen jedes Gebrechen nur eine Kur kennen: Kaufen und ans goldene Kalb der kapitalistischen Versprechungen glauben. Steht auf einer Verpackung: «Diese Anschaffung wird sie glücklich machen», so wird die Anschaffung getätigt. Jeder Marktschreier hat bei ihnen Erfolg. Immer. Besonders mit der Begründung, dass die alte Ware nicht nur schlecht, sondern sogar besonders schlecht, da «sozialistisch» sei.

Sie besitzen Wohnungen voller Massagedecken, Haushaltsrobotern, Spezialpfannen, 3D-TV-Brillen und Q10-Cremes. Eine von ihnen kauft einen neuen Gesundheitssessel und erhält dafür ein Diplom als «Botschafterin der Gesundheit». Es macht sie glücklicher als ein Doktortitel. Männer lernen sie ganz klassisch auf Tanztees kennen. Es herrscht in ihrem Leben eine vergnügte und keine Sekunde lang angezweifelte Instanttransaktion zwischen den Objekten ihrer Begierde und deren Erwerb. So hedonistisch und leichtgläubig kann man also sein im hohen Alter.

Affen mit Vergangenheit

Lambiel, Goro, Lillemor und die polnischen Omas sind dankbares Dokumentarmaterial mit viel sentimentalem und kuriosem Unterhaltungswert. Und man würde eigentlich annehmen, dass genau dies auch Affen zu eigen ist. Aber ach, die Annahme ist falsch. Der Niederländer Jos de Putter hat mit «See no Evil» einen Film über drei Affen mit Karrieren im Ruhestand gedreht, der erstens langweilig und zweitens zu kurz gedacht ist.

Das beginnt ganz heiter, als ein älterer Herr erklärt, wie Kunden bei seinem Affen abstrakte Kunst beziehungsweise eben «ape-stract art» bestellen würden, und zwar mit einer genauen Angabe der gewünschten Farben. Der Affe macht mit diesen irgendwas, und es gilt als genial. Der Affe heisst Cheeta und soll einer der Cheetas aus den «Tarzan»-Filmen sein, weshalb er sich auch gerne «seine» alten Filme anschaut. Soweit so glaubhaft vergnüglich. Allein, dass der nette ältere Herr als Betrüger gilt, weil Cheeta rein biologisch gerechnet kein Film-Cheeta sein kann, wird mit keinem Wort erwähnt.

Der angebliche Filmaffe Cheeta schaut «Tarzan».
Der angebliche Filmaffe Cheeta schaut «Tarzan».Bild: Visions du Réel

Es folgen Kanzi und Knuckles. Kanzi ist ein Wundertier der Sprachforschung und verbringt sein Leben damit, gesprochene Worte kleinen Bildchen richtig zuzuordnen. Er tut das manchmal auf einer Wiese, meist aber in einem kalten Betonbunker. Geht es Kanzi eigentlich gut? Wir erfahren darüber nichts. Restlos ohne Worte wird Knuckles begleitet. Nur eine kurze alte Filmsequenz zeigt die Grausamkeit seiner Vergangenheit. Er wurde, wie ein Paket verschnürt, in irgendwelche Behälter gestopft, die mit Hochgeschwindigkeit über Schienen jagten und oft auch entgleisten. Heute bekommt Knuckles Physiotherapie. Auch ohne eine Furie des radikalen Tierschutzes zu sein, muss man sagen, hier wurden gleich drei Chancen beinahe nichts sagend vertan.

Herzschmerz – ein Mensch ist auf Entzug

Nun ist Nyon zwar nicht das Festival, wo die neuen Filme von Michael Moore Premiere haben. Die laufen selbstverständlich auf den grösseren Marktplätzen des Filmgeschäfts in Cannes, Venedig oder Toronto. Aber immerhin feiert der Schweizer Christian Frei hier Premiere und der war ja 2002 mit «War Photographer» für einen Oscar nominiert. Das ist an dieser Stelle wichtig, denn genau mit dem Prädikat «Oscar-nominated Swiss director» geht Frei in «Sleepless in New York» auf die Jagd nach gebrochenen Herzen. Nach Menschen, die vor kurzem von einer riesengrossen Liebe verlassen wurden.

Zur Seite steht ihm dabei die Anthropologin Helen Fisher, die Bücher mit verlockenden Titel wie «The Sex Contract», «Anatomy of Love», «The First Sex», «Why We Love» und «Why Him? Why Her?» geschrieben hat. Helen Fisher steckt nun Alley Scott, eine Hochzeitsfloristin, die vor wenigen Wochen verlassen wurde, in eine Röhre und konfrontiert sie dort mit einer 3D-Vision des Geliebten. Alleys Hirn flippt aus, das Suchtzentrum reagiert auf das Bild wie auf Kokain, und die Dopaminproduktion, die macht, dass Liebe so unbeschreiblich schön sein kann, geht auf Overdrive. Das Herz schmerzt und der Körper tut weh. Ein Mensch ist auf Entzug, ganz einfach.

Rosey La Rouge hat ihr Herz vor einem Haifischtank verloren.
Rosey La Rouge hat ihr Herz vor einem Haifischtank verloren.Bild: Visions du Réel

Trailer zu «Sleepless in New York»

Rosey La Rouge, ein toughes kleines Gogo-Girl, hat sich einst als Nixe verkleidet in einen Meereskönig verliebt. Die beiden haben eine Nacht lang vor einem Haifischtank geknutscht, dann hat sie nie mehr was von ihm gehört. Aber die Kostüme, die Inszenierung und die gefährlichen Hintergrundfische gaben der Szene etwas vollkommen Überhöhtes, Literarisches. Rosey ist seither in einer Imagination der Liebe gefangen, wie sie keine Realität zu übertünchen vermag.

Es geht Christian Frei also um die tödliche Verwundbarkeit von Herz und Hirn und irgendwann einem gesamten menschlichen Organismus. Ein Liebestod, ein Verenden an der Liebe, so denkt man, das wäre der perfekte Mord. «Sleepless in New York», der Film, dessen Regisseur sich selbst als Arzt inszeniert, der eine riskante Untersuchung an offenen Herzen vornimmt, ist eine gute Stunde lang äusserst packend. Danach könnte man allerdings auch eine Folge «Sex and the City» einblenden. Auch da waren die Damen oft verlassen und schlaflos in New York. 

«Visions du Réel»
Das Dokumentarfilmfestival in Nyon läuft noch bis am 3. Mai. Alle besprochenen Filme sind weiterhin im Programm.
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