Wie gut ist die Schweiz für die Digitalisierung gerüstet im Vergleich mit den USA und dem Silicon Valley?
Sunnie Groeneveld: Wir sind sehr gut in der Grundlagenforschung. Das Internet wurde in der Schweiz erfunden, am CERN in Genf. Darauf dürfen wir sehr stolz sein. Ein grosser digitaler Player wie Google hat sich in Zürich niedergelassen, weil wir ausserordentliche Talente ausbilden und in der Forschung sehr gut aufgestellt sind. IBM und Disney unterhalten hierzulande Forschungszentren, Huawei stockt auf.
Also sind wir gut unterwegs?
Die Schweiz ist weltweit in diesem Bereich führend. Aber in Aspekten, die näher bei der Wirtschaft liegen, könnte man noch einiges besser machen. Sei es beim digitalen Kundenerlebnis vieler Firmen, sei es hinsichtlich der Skalierung von Startups mit einem digitalen Geschäftsmodell. Bis dato haben wir kein Jungunternehmen hervorgebracht, dass in derselben Liga wie Airbnb, Twitter oder Uber spielt. Da ist der Nachholbedarf enorm, in der Schweiz und ganz Europa.
Sie beraten Firmen bei der digitalen Transformation ...
... und dem damit einhergehenden Kulturwandel. Die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung hängen stark davon ab, wie weit Führungskräfte fähig und willens sind, sich über den eigenen Bereich hinaus zu vernetzen und übergreifende digitale Projekte voranzutreiben.
Was sind Ihre konkreten Erfahrungen?
Die Führungskultur muss sich der digitalen Welt anpassen. Wir müssen wegkommen von einem Führungsstil, bei dem man als eine Art Kommandant agiert, der über alles Bescheid weiss und keine Fehler macht. Führungskräfte müssen sich vermehrt als Coach verstehen und fähig sein, die richtigen Fragen zu stellen. Man kann angesichts der heutigen Informationsflut nicht mehr alles wissen. In der Schweiz gibt es noch zu wenig Führungskräfte mit diesem neuen Selbstverständnis.
Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Ich engagiere mich seit diesem Jahr an der HWZ als Studiengangsleiterin und baue einen neuen Executive MBA in Digital Leadership auf. Denn um unser Land digital voranzubringen, braucht es auf allen Ebenen – in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft – Führungskräfte, die den Mut haben, Dinge neu zu denken und auszuprobieren.
Was nicht einfach ist. Wer scheitert, gilt in der Schweiz schnell als Versager.
Die Fehlerkultur in der Schweiz ist ein grosses Thema. Sie ist einerseits eine Stärke. Unser Perfektionismus und die Qualität «Made in Switzerland» haben weltweit einen hohen Stellenwert. In Zeiten der digitalen Veränderung aber kann man nicht immer warten, bis die Dinge zur Perfektion entwickelt sind. Stattdessen lohnt es sich bei digitalen Innovationen möglichst früh an den Markt zu gehen, Ideen am Kunden zu testen und basierend auf den Nutzerfeedbacks das Angebot laufend weiterzuentwickeln. Am Anfang geht man also mit einem «unfertigen» Produkt an den Markt und nimmt gewisse Fehler in Kauf, was eher unschweizerisch ist. Daran scheitern viele Digitalisierungsprojekte, es werden Millionen verbrannt.
Im laufenden Wahlkampf scheint die Digitalisierung kein Thema zu sein.
Ich denke schon, dass sie ein Thema ist. Verschiedene Exponenten sprechen darüber, auf allen Seiten des politischen Spektrums. Aktuell ist sie medial aber sicher nicht so präsent wie der Klimawandel.
Die Digitalisierung ist auch ein heikles Thema, das bei vielen Menschen Ängste auslöst.
In unserem Teil der Welt trifft das zu. Wir haben das teilweise den Medien zu verdanken, aber auch gewissen Technologiefirmen. Wir haben kein Google oder Facebook hervorgebracht, zumindest kein Unternehmen in dieser Grössenordnung. Das hat dazu geführt, dass das Narrativ bei uns mehr gefahren- als chancenorientiert ist.
Wie kann man dem begegnen?
Eigentlich haben wir aber unternehmerisch heute viel mehr Chancen und weniger Hürden als früher. Es braucht nur einen Laptop, eine Internetverbindung und eine URL, und schon kann man sein digitales Angebot auf dem globalen Markt platzieren. Nur ist dieser Aspekt in den Köpfen der Menschen bisher viel weniger zum Tragen gekommen. Derzeit versuchen verschiedene Kräfte, dies zu ändern, aber dafür braucht es viele gute, positive Beispiele.
In der realen Welt aber haben viele Angst, dass ihre Jobs durch die Digitalisierung verschwinden.
Grosse industrielle Veränderungen führten stets zu einer Umwälzung im Arbeitsmarkt. Als das Telefon erfunden wurde, damals eine neue Technologie, wurden die Verbindungen von Hand gestöpselt. Diese Aufgabe wurde seither wegautomatisiert. Sind wir als Gesellschaft total unglücklich darüber? Ich wage dies zu bezweifeln. Wir stehen immer noch am Anfang der Digitalisierung. Derzeit können wir noch vieles mitgestalten.
Was kommt auf die Arbeitnehmenden zu?
Personen, die sehr repetitive Aufgaben mit einem gewissen Automatisierungspotenzial erledigen, müssen sich fragen, wie sie sich weiterbilden und in ihren Tätigkeiten in den nächsten Jahren weiterentwickeln können. In den allermeisten Fällen ist es aktuell noch ein evolutionärer Prozess, den sie mitgestalten können. Das ist Teil der Arbeitsmarktdiskussion. Die Vorstellung, dass man 20 oder 30 Jahre das Gleiche macht, ist vorbei. Aber war das jemals menschlich befriedigend? Ich sehe viele Chancen und bin für die Schweiz mit ihrer grossen Tradition in Bildung und Weiterbildung zuversichtlich. Wir haben die Chance, eine Arbeitswelt zu kreieren, die besser ist als die heutige.
Das hört sich gut an. Aber was raten Sie einer 50-jährigen Sachbearbeiterin bei einer Versicherung, deren Job schon bald von einem Algorithmus erledigt werden könnte?
Niemand darf das Gefühl haben, die Digitalisierung gehe sie oder ihn nichts an. Das beginnt bei den Arbeitnehmenden. Aber auch die Arbeitgeber müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sie ihre Leute weiterentwickeln wollen. Wie können wir ältere Menschen weiterhin beschäftigen, in Zukunft womöglich länger als heute? Und es muss für Arbeitgeber attraktiver werden, ältere Leute einzustellen. Für diese ist es heute oft nicht einfach, einen neuen Job zu finden. Die Schnittstellen in der Schweiz funktionieren noch nicht zu 100 Prozent. Politik und Wirtschaft sind gefordert, aber ich bin überzeugt, dass wir das mit Willen, Engagement und einem erhöhten Dringlichkeitsverständnis gemeinsam hinbekommen können.
Welche «Hausaufgaben» muss die Politik in der neuen Legislatur erledigen?
Sie kann die Rahmenbedingungen für digitale Geschäftsmodelle und allgemein das Unternehmertum stärken. Dazu gehört beispielsweise das Startup-Visum, das bisher mehrmals im Parlament abgelehnt wurde. Andere Länder wie Irland, Kanada, Frankreich und Singapur haben es bereits erfolgreich eingeführt. Es würde der Schweiz gut tun, mehr unternehmerisches Talent anzuziehen. Dazu gehört auch, dass wir ausländische Studierende, die an unseren Hochschulen mit unseren Steuergeldern ausgebildet werden, im Land halten, insbesondere wenn sie ein Jungunternehmen gründen wollen. Stattdessen müssen sie nach dem Studium um die weitere Aufenthaltsbewilligung bangen. Ein weiteres Thema sind die Kontingente. Es ist gerade für kleinere Firmen schwierig, im Ausland Fachkräfte zu rekrutieren. Auch bei Themen wie Datenschutz und digitale Verwaltung besteht Handlungsbedarf.
Es gibt also noch einiges zu tun.
Ja, definitiv. Wir hätten in der Schweiz viele Chancen und Möglichkeiten, die Digitalisierung zu gestalten. Es braucht aber Leute, die nicht nur bewahren, sondern auch etwas bewegen wollen. Seit Jahren wird beispielsweise über einen Zukunftsfonds geredet, der unter anderem mit Pensionskassengeld finanziert würde. Heute können Pensionskassen 15 Prozent ihres Kapitals in alternative Anlagen investieren. Ich fände es toll, wenn nur schon ein kleiner Prozentsatz in Innovation investiert werden würde. Damit könnte die Schweiz das nächste Google oder Facebook hervorbringen. Unsere Jungunternehmen, etwa ETH- und EPFL-Spinoffs, sind mindestens so gut wie jene im Silicon Valley, wenn nicht sogar besser. Aber oft hapert es bei der Finanzierung in der Wachstumsphase. In der Schweiz gibt es zu viel Old Money und zu wenig Smart Money.
Muss die Politik eingreifen?
Ich befürworte nicht, dass der Staat einen Innovationsfonds lanciert. Aber verschiedene Auflagen etwa für Pensionskassen könnten geändert werden. Die Konzepte gibt es auch, teilweise seit Jahren, aber es ist noch kein Franken geflossen. Da braucht es vielleicht ein wenig Druck, damit ein Konzept auch mal umgesetzt wird. Ich habe 2015 mit Jungunternehmern in der Wirtschaftskommission des Nationalrats einen Katalog mit Forderungen präsentiert und die Reaktionen noch lebhaft vor Augen. Ich kann Ihnen sagen: Dringlichkeit und Umsetzungswille sehen anders aus!
Haben Sie eine Erklärung dafür?
In der Politik wird man für vier Jahre gewählt, häufig verbunden mit der Forderung, den Status Quo eher länger als kürzer zu bewahren. Einzelne Politiker und Politikerinnen setzen sich sicherlich dafür ein, die Schweiz weiterzubringen, doch über das ganze Parlament betrachtet wurde in der aktuellen Legislatur bei den grossen Zukunftsfragen tendenziell der Ist-Zustand bewahrt ...
... dessen Niveau in der Schweiz sehr hoch ist.
Dem ist so. Sie suggerieren aber indirekt, dass alles so bleibt wie es ist, wenn wir nichts verändern. Das ist ein kompletter Trugschluss. Denn Veränderung geschieht auch ohne unser Zutun, und zwar mit einer immer höheren Geschwindigkeit. Das Nichtstun, das viel zu oft unter dem Deckmäntelchen der bewahrenden Mentalität stattfindet, ist auch ein Entscheid, nicht an den Veränderungen zu partizipieren, nicht vorausschauend zu handeln und in vielen Fällen geschenkte Chancen zu verpassen.
Sie stellen der Schweizer Politik kein gutes Zeugnis aus.
Dabei wissen wir als Demokratienation, wie wichtig Partizipation, Engagement und Eigenverantwortung sind. Das ist auch ein Aufruf an meine Generation, politisch aktiver zu werden. Gewisse Leute in Bern haben rein aus Altersgründen einen Zeithorizont von maximal acht Jahren. Man denkt dann anders, als wenn man 30 oder 40 Jahre bis zur Pensionierung vor sich hat. Es braucht eine gesunde Balance zwischen den Generationen, um zukunftsorientierte Themen voranzutreiben, und die ist im heutigen Parlament nicht vorhanden.
Was ist Ihre Erklärung dafür?
Wir können uns in der Schweiz glücklich schätzen, dass wir einen hervorragenden demokratischen Prozess haben. Es braucht aber ein politisches Bewusstsein, damit wir die Hebel nutzen, die wir zur Verfügung haben. Oft werden sich junge Menschen zu spät im Leben bewusst, wie politische Entscheide gefällt werden. Dieser Aspekt wird von den Bildungsinstitutionen nicht genügend abgedeckt. Das ist ein Nachteil, wenn man nicht familiär politisiert wurde. Ich habe die öffentlichen Schulen besucht und wurde dreimal ausführlich über die Römer unterrichtet. Der politische Prozess in der Schweiz wurde hingegen nur kurz abgehandelt.
Seit meiner Schulzeit hat sich offenbar nichts geändert.
Das ist eine Katastrophe! Es führt dazu, dass viele Junge das Gefühl haben, Politik gehe sie nichts an. Sie verstehen nicht oder zu spät, wie wichtig und dringlich sie ist. Es braucht einen Wandel in der Bildung. In Zeiten von Google sollte man das Auswendiglernen abschaffen, ausser es geht um eine Sprache. Google kann aber den Menschen niemals beibringen, neugierig und partizipativ zu sein. Die Schule müsste mehr auf solche Aspekte fokussieren. Hier gibt es viel Luft nach oben. Natürlich ist meine Generation auch selber gefordert, aber die Schule trägt eine Mitverantwortung.
Gerade in diesem Jahr aber beobachtet man eine Politisierung der Jungen, etwa durch Klima- und Frauenstreik. Die Schweiz hat bei der Frauenförderung nicht den besten Ruf.
Wie haben verschiedene Baustellen. In einer Rangliste des «Economist» zu den Karrierechancen von Frauen lag die Schweiz auf Rang 26 von 30 Ländern. Bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie wüssten wir eigentlich schon lange, was wir machen sollten. Aber es gibt kein signifikantes Momentum, obwohl wir damit ein enormes wirtschaftliches Potenzial vergeben. Die Mehrheit der Akademikerinnen arbeitet im Schnitt vier Jahre und reduziert danach auf Teilzeit oder zieht sich ganz aus dem Beruf zurück. Das ist schockierend! Es geht auch um unsere Steuergelder.
Muss man darauf hoffen, dass das Parlament nach den Wahlen jünger und weiblicher wird?
Ja, ich gehe davon aus, dass diese Themen so mehr Drive bekommen würden.
Das grosse Thema im Wahljahr ist das Klima. Sie haben in Yale beim Umweltökonomen und Nobelpreisträger William Nordhaus studiert, der in diesem Bereich forscht.
Ökonomen sprechen gerne vom Wert, den die Dinge haben. Nordhaus stellt die Grundsatzfrage, wie viel Wert die künftige Generation für uns hat gegenüber der heutigen. Wie viel sind wir bereit, für sie zu investieren? Worauf sind wir bereit, für sie zu verzichten? Wir haben das gesellschaftlich nie explizit besprochen, aber implizit haben wir uns darauf geeinigt, dass die künftige Generation de facto weniger wichtig ist als die aktuelle.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Es gibt mir zu denken. Es bedeutet zum Beispiel nicht, dass ich nicht mehr fliege. Ich tue das durchaus, aber ich bin mir bewusst, dass ich mich damit definitiv dafür entscheide, dass es der künftigen Generation schlechter gehen wird. Das ist schwierig und führt dazu, dass ich in Europa wenn möglich nur mit dem Zug unterwegs bin, auch nach London.
Wie soll die Politik das Thema angehen?
Es gibt verschiedene Lösungsansätze. Die Grünen setzen auf Regulierung und eine Änderung des Wirtschaftssystems. Bei der FDP fragt man sich, was vor den Wahlen und nach den Wahlen ist. Welches Lager setzt sich innerhalb der Partei durch? Bei den Grünliberalen stellt sich die Frage, was sie konkret machen werden. Finden sie die Balance zwischen Regulierung, wirtschaftlichen Anreizen und neuen Technologien?
Nordhaus propagiert mehr Kostenwahrheit, etwa durch eine CO2-Steuer.
Der liberale Gedanke funktioniert, so lange der Markt funktioniert. Wenn der Preismechanismus schief läuft wie beim Fliegen, liegt es an der Politik die Rahmenbedingungen für eine Preiskorrektur zu schaffen. Dann brauchen wir eine Klima-Steuer oder einen Mechanismus, der die negativen externen Effekte in den Preis einbezieht. Heute leben wir in zu vielen Bereichen mit Kostenlügen, was zu Fehlentscheiden führt. Wir müssen näher an die Wahrheit heran kommen und die vollen Kosten kennen, damit wir in der Lage sind, bessere Entscheide zu treffen, für uns selbst, den Planeten und die zukünftigen Generationen.
Was kann die Schweiz für die Umstellung auf eine klimafreundliche Wirtschaft tun?
Im 20. Jahrhundert haben wir den Grundstein dafür gelegt, dass wir heute von einer humanitären Tradition der Schweiz sprechen und weltweit diesbezüglich als Vorbild gelten. Im 21. Jahrhundert wünsche ich mir, dass die Schweiz, den Grundstein für eine neue Tradition legt, und global zum Vorbild für eine klimafreundliche Wirtschaft avanciert. Wir haben dafür alles was es braucht: Angefangen mit der unternehmerischen Innovation wie beispielsweise das ETH-Spinoff Climeworks. Seine Gründer sind für mich die «Hidden Swiss Elon Musks». Mit ein oder zwei weiteren derartigen Projekten könnte die Schweiz zeigen, dass wir es beim Klima hinbekommen. Es wäre so etwas wie der nächste Gotthardtunnel und vor allem total machbar. Wir haben das Geld, die Leute, Rechtssicherheit, ein funktionierendes Wirtschaftssystem. Es braucht einfach den Willen.
Weiterbildung ist gut und wichtig, gar keine Frage. Aber wenn ich mir das tägliche LinkedIn Marketing- und Werbegebrabbel von den MBA-, Bachelor - und Sonstigen Masterabschlüssen Sammlertypen anschaue...für mich der falsche Weg.
Was rät die smarte Sunnie der über 50-jährigen Sachbearbeiterin jetzt genau?
Bitte mehr Interviews mit Macherinnen und Machern, dafür weniger mit beratenden Menschen. Diese Leute sind die fleischgewordenen Stimmen im Kopf, die andere nach ihrem Gusto beeinflussen wollen.