OSZE-Wahlbeobachter stellen Mängel bei Türkei-Referendum fest

OSZE-Wahlbeobachter stellen Mängel bei Türkei-Referendum fest

17.04.2017, 16:00

Trotz Manipulationsvorwürfen der türkischen Opposition und des knappen Ausgangs hat das Regierungslager den Sieg bei dem Referendum über die Stärkung der Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan gefeiert. Die OSZE-Wahlbeobachter stellten indes zahlreiche Mängel fest.

«Das Verfassungsreferendum am 16. April hat unter ungleichen Bedingungen stattgefunden», heisst es in dem am Montag in Ankara vorgestellten vorläufigen Bericht der OSZE-Mission.

«Die beiden Seiten der Kampagne haben nicht die gleichen Möglichkeiten gehabt. Wähler wurden nicht mit unabhängigen Informationen über zentrale Aspekte der Reform versorgt», kritisierte Cezar Florin Preda von der Wahlbeobachtermission des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) am Montag in Ankara.

Die späte Änderung der Abstimmungsregeln habe «gegen das Gesetz» verstossen und wichtige «Schutzvorkehrungen» beseitigt, sagte Preda. Er bezog sich auf eine umstrittene Entscheidung der Hohen Wahlkommission am Sonntag, auch nicht offiziell zugelassene Wahlunterlagen als gültig zu werten. Die Opposition kritisierte diesen Schritt scharf und forderte eine Neuauszählung und sogar die Annullierung der Abstimmung.

Die beiden grössten Oppositionsparteien CHP und HDP kritisierten noch am Sonntagabend Unregelmässigkeiten und forderten eine Neuauszählung eines Teils der Stimmen. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu sagte, die Wahlkommission habe «einen dunklen Schatten auf die Entscheidung des Volkes geworfen».

«Es gibt nur eine Entscheidung, um im Rahmen des Gesetzes die Situation zu entspannen - die Hohe Wahlkommission sollte die Abstimmung annullieren», sagte der CHP-Vize Bülent Tezcan am Montag.

OSZE spricht nicht von Betrug

Die OSZE-Beobachtermission kritisierte, dass «der rechtliche Rahmen unzureichend bleibt für die Abhaltung eines wahrhaft demokratischen Referendums». Preda stellte aber klar, die Experten würden nicht von Betrug sprechen und hätten keine Informationen, um die Vorwürfe der Opposition zu bestätigen.

OSZE-Missionschefin Tana de Zulueta sagte in Ankara, es sei nicht Aufgabe der OSZE, über die Legalität des Referendums zu entscheiden. Preda sagte: «Im Allgemeinen blieb das Referendum hinter Standards des Europarates zurück.»

Die Beobachtermission kritisiert, Provinzgouverneure hätten den Ausnahmezustand dazu genutzt, die Versammlungs- und die Redefreiheit einzuschränken. Die Arbeit der Wahlbehörden sei nicht ausreichend transparent gewesen. Die Vertretung der politischen Parteien an den Urnen sei negativ beeinflusst worden, indem 170 von der Opposition nominierte Vertreter nicht zugelassen worden seien.

Die OSZE stellte auch fest, dass Menschen, die aus den umkämpften Kurdengebieten geflohen seien, nicht in der Lage gewesen seien, abzustimmen.

Bei dem Volksentscheid hatten nach offiziellen Angaben 51.4 Prozent für die Ausweitung der Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan gestimmt, 48.6 Prozent dagegen. «Die Türkei sagt Ja. Die Revolution des Volkes», titelte die regierungsnahe Zeitung «Sabah» am Montag. Allerdings: Die drei grössten Städte Istanbul, Ankara und Izmir stimmten ebenso wie die westlichen Regionen und der kurdische Südosten mit Nein.

Proteste gegen «historische Entscheidung»

In Istanbul waren noch in der Nacht zu Montag tausende Menschen in den Oppositionshochburgen Kadiköy und Besiktas gegen Erdogan auf die Strasse gegangen. Vielerorts stellten sich Einwohner an ihre Fenster und schlugen aus Protest gegen Erdogan auf Kochtöpfe und Pfannen. Auch in der Hauptstadt Ankara gab es Proteste.

Das Votum, das Erdogan am Abend in seiner ersten Ansprache als «historische Entscheidung» würdigte, wird nicht nur das Regierungssystem tiefgreifend verändern, sondern auch weitreichende Auswirkungen auf die weitere Ausrichtung des Landes und das Verhältnis zu Europa haben.

Ministerpräsident Binali Yildirim, dessen Posten mit Inkrafttreten der Reform bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2019 wegfallen wird, hatte sich in seiner Siegesrede versöhnlich gegeben. Es sei «der Moment der Solidarität, der Einheit, des Zusammenhalts» gekommen, sagte Yildirim in Ankara. Es gebe «keinen Verlierer», die Türkei sei der Gewinner.

Versöhnliche Töne fehlen

Erdogan kündigte aber kurz darauf vor jubelnden Anhängern an, auf die rasche Wiedereinführung des Todesstrafe zu dringen und notfalls ein zweites Referendum darüber anzusetzen. Dies dürfte die Gesellschaft weiter polarisieren und würde automatisch zum Abbruch der EU-Beitrittsgespräche führen. Erdogan hat bereits angekündigt, das Verhältnis zur EU auf den Prüfstand zu stellen.

«In seiner ersten Siegesrede sandte Erdogan eine Botschaft an Freunde und Verbündete», dass sie die Türkei nicht isolieren sollten, schrieb der Kolumnist Murat Yetkin in «Hürriyet Daily News». In seiner zweiten «Balkonrede» habe er aber die Wiedereinführung des Todesstrafe versprochen. «Dies war nicht die korrekte Botschaft an die EU oder an Auslandsinvestoren.»

Viele Kommentatoren betonten, dass sowohl die Regierung als auch die Opposition Lehren ziehen müssten. «Am 17. April sind wir zu einer neuen Türkei aufgewacht», schrieb der regierungsnahe Kolumnist Abdulkadir Selvi in «Hürriyet». «Das Ja war siegreich, doch das Volk hat Botschaften an die Regierung und die Opposition gesandt, die genau geprüft werden müssen.»

Verlängerung von Ausnahmezustand

Laut Medienberichten will die Regierung den nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli verhängten Ausnahmezustand erneut um drei Monate verlängern. Er würde normalerweise diese Woche auslaufen. Vize-Ministerpräsident Nurettin Canikli bestätigte, dass die Frage bei einer Sitzung des Sicherheitsrats am Abend diskutiert werde. (sda/dpa)

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