Es wird grau, es wird kalt und die Welt verliert in unseren Breitengraden unverfroren ihre sommerliche Nonchalance. Wir wussten alle, dass dieser Moment kommen wird, der Moment der herbstlichen Ernüchterung, der uns ein wenig den Lebensmut aus den Knochen saugt und das Vakuum mit Schwermut zu füllen gedenkt. Trotzdem sind wir jetzt irgendwie empört.
Das, obwohl der Herbst eigentlich der bessere Sommer ist. Man muss ihn nur aus der richtigen Perspektive betrachten.
Jede freiwillig in einem Raum verbrachte Minute wird mit ungläubigen Blicken abgestraft. Jedes «Nei, mag igendwie nöd so» wird mit einem «Ja, chum scho, bi dem Wätter» entkräftet. Jeder Augenblick, in dem ein Auge einen flimmernden TV touchiert, wird direkt zum Affront, der den Zuhörern ein empörtes Aufschnauben entlockt. Obwohl eine durchaus bekömmliche Zeit des sozialen Florierens, so kostet sie dennoch Kraft.
Kraft, die eigentlich nur zwischen Freibad-Bonanza und Weihnachtsmarkt-Ekstase wieder gesammelt werden kann. Dank dem Wetter, das weder schön, noch übermässig romantisch ist.
Je feiner der Gaumen, desto saisonaler die Gerichte – könnte man meinen, wenn man in Restaurants um sich blickt. Saisonale Menus, saisonale Weine, saisonales Hahnenwasser.
Während der Frühling und der Herbst relativ spannende kulinarische Angebote mit sich bringen, so besticht der Sommer vor allem durch eines: unerträgliche Leichtigkeit. Gemüse mit einem leichten Hauch von Nichts ist lecker, aber vieles andere eben auch.
Diese Kohlenhydratscham mag gesundheitlich absolut zu begrüssen sein, kann aber mit der Zeit auch an die Substanz gehen. Doch zum Glück fallen im Herbst ja die Temperaturen.
Was für den Otto-Normalesser bedeutet, dass er nach Lust und Laune immer noch Gemüse essen kann (einfach halt eher knolliger Natur), aber ebenso gut reinhauen kann ...
... ohne sozial geächtet zu werden.
Was für den Magen ein Segen sein kann, ist für den Geist eher eine Bürde. Die Umwelt serbelt ab. Unaufhaltsam, kompromisslos und penetrant offensichtlich. Es geschieht nicht verschachtelt und versteckt, wie es bei unserem eigenen Körper der Fall ist, der am Tag seiner Wahl ohne grosses Trara unaufdringlich den Dienst quittiert.
Vermutlich darum haben Menschen prinzipiell in diesem herbstlichen Schauspiel des Sterbens die Neigung dazu, die Umwelt als Metapher für das eigene Leben, alles drum herum und alle darin enthaltenen zeitlichen Ebenen zu sehen.
Aber auch hier ist die Perspektive Trumpf. Es mag in der Tat eine wichtige Zeit für die ganz wichtigen Gedanken sein. Allerdings soll dabei das Negative nicht überwiegen.
Nicht nur sozial ist der Sommer eine Herausforderung. Auch körperlich stossen viele an ihre Grenzen. Insbesondere in der heutigen Blütezeit der viralen Like-Treibjagd. Nicht alle gehören zur höheren Kaste der Influencer, doch die meisten wollen trotzdem ein wenig gelten.
Die visuell imposante, sommerliche Insta-Aktivität entwickelt eine perfide Sogwirkung. Die Sommersonne scheint Social-Media-Aficionados permanent auf die Schokoladenseite ihres Lebens. Da will man nicht als Phlegma auf der Strecke bleiben.
Im Herbst hat sich's dann mit mühseligen Unternehmungen und endlosen Sommerabenden, die strikt rapportiert werden müssen, denn der Wind Vibe hat sich gedreht. Und zwar zum Guten – was den Zeitaufwand betrifft.
Für Charakter-Puristen ist der Herbst ein Traum. Ein schlechter Tag im Sommer? Den hast nur du. Der Rest der Welt geniesst öffentlichkeitswirksam das Leben in den Seen, Flüssen, Freibädern, Tümpeln dieses Landes. Oder halt in den Bergen.
Sonnenbrillen, von der Sonnencrème glänzende Backen, sonnengetränkte Stirnpartien. Eine schöne Welt, die sich uns offenbart – die genauso schön, wie aufwändig aufrecht zu erhalten ist. Immer Bock auf Glacé haben? Immer in selbstbewusster Bierlaune sein? Immer gerade auf dem lustvollen Sprung in den See sein? Oder immerhin so tun als ob? Auslaugend.
Nicht, dass traurige Menschen erquickend wären. Aber die Unsicherheit, der Frust, die Müdigkeit – all das ist wieder in den Augen deiner Mitmenschen zu erkennen. Weil keine Sonnenbrille. Das ist nicht schadenfroh, nicht pessimistisch, sondern nur eins: tröstlich.