Kafi Freitag - Das Buch
Die 222 besten Fragen und Antworten in einem schön gestalteten und aufwendig hergestellten Geschenkband.
Lieber Peter
Vor vielen vielen Jahren ist mir etwas passiert, das mein Weltbild stark verändert hat. Im Parkhaus Letzipark fuhr ich auf einen Parkplatz, der direkt an einen Parkplatz für Behinderte grenzte. Beim Aussteigen sah ich, wie ein schnittiger Porsche recht zackig auf den Behindertenparkplatz bog, hinter dem Steuer ein sehr attraktiver Mann um die 30. Typisch Porschefahrer!, so dachte es mir. Als er die Fahrertür einen Spaltbreit öffnete, nutzte ich die Gelegenheit, ihn in wunderbarster Kafimanier zu fragen, ob er eigentlich behindert sei, oder was. Er antwortete nicht, aber der Kofferraum öffnete sich und eine eingebaute Vorrichtung hievte ihm einen Rollstuhl neben die Fahrertür.
Ich weiss nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie sehr ich mich geschämt habe. Es gibt kaum Vokabular dafür, meine Gefühle zu beschreiben, es traf mich sehr tief und sehr nachhaltig.
Was das mit Ihrer Geschichte zu tun hat, fragen Sie? Viel, lieber Peter. In Ihrem Kopf ist ein Strang an Gedanken gestartet, der sich von Bewunderung über den gedanklich erhobenen Zeigefinger zu einer Wertung mit anschliessender Frage entwickelt hat. Dieser Gedankengang passiert so schnell, wir können ihn kaum steuern. So wie ich ihn an jenem Tag im Parkhaus nicht steuern konnte. Nicht selten mündet er in einer Vorverurteilung, die aus unserem eigenen Weltbild hinaus passiert. Das ist so menschlich. Und dennoch manchmal doof. Denn was wissen wir schon?
Wissen Sie, ob diese Frau tagtäglich mit dem Velosolex durch die Stadt kurvt oder ob sie es einmal im Jahr aus der Garage holt und damit den Geburtstag ihres verstorbenen Grossvaters begeht, der ihr das Teil vermacht hat? Wissen Sie, ob diese Frau das Velosolex gedankenlos mit Töfflibenzin betankt, oder ob sie es für viel Geld in einen Elektroroller hat umbauen lassen? Natürlich gibt es dazwischen viele andere Versionen, aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass Sie und ich keine Ahnung haben und uns aber dennoch anmassen, darüber zu urteilen, was jemand anderes tut.
Und wie würden Sie darüber denken, wenn Sie wüssten, dass es tatsächlich eine Abgasschleuder ist, die Frau aber ihre ganze Lebensfreude aus dem Fahren damit zieht, die sie dringend braucht, weil sie zu Hause eine sterbende Mutter zu versorgen hat und zwei kleine Kinder, für die der Kindsvater nicht aufkommt, weil er sich kurz nach deren Geburt abgesetzt hat?
Wir Menschen wollen immer bewerten. Das ist ein uralter Instinkt und hat zu Zeiten, als man blitzschnell zu entscheiden hatte, ob der Mann vor der Höhle eine Keule bei sich trägt oder doch eher eine Schweinshaxe, ganz viel Sinn gemacht. Heute laufen wir mit unserer Bewerterei eher in eine Sackgasse. Wir sehen immer nur einen kleinen Ausschnitt und uns fehlt immer das ganz grosse Ganze. Und dabei ist gerade der Kontext so immens wichtig, wenn man über einen Sachverhalt nachdenkt. Um die Frau auf dem Solex könnte ich Ihnen in einer Stunde 50 Geschichten bauen. Vermutlich wäre keine Einzige davon wahr.
Aber natürlich können Sie den Tatbestand des Solexfahrens auch ganz ohne Kontext bewerten. Das tun viele. Aber wird es der Sache wirklich gerecht? Was denken Sie lieber Peter?
Mit herzlichem Gruss und ebensolchem Dank für diese sehr spannende Frage! (Eine ähnliche habe ich im letzten Jahr beantwortet, die Antwort dazu finden Sie hier.)
Ihre Kafi