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Liebe Kafi, ich stehe hier gerade vor einem moralischen und seelischen Dilemma. Um es kurz zu machen: Ich bin schwanger. 

«Das Leben gewinnt und die Welt,
sie erwacht nach der Nacht
und ein neuer heller Tag beginnt,
das Leben gewinnt.» (Und zwar unabhängig von der Entscheidung.) Udo Jürgens.
«Das Leben gewinnt und die Welt, sie erwacht nach der Nacht und ein neuer heller Tag beginnt, das Leben gewinnt.» (Und zwar unabhängig von der Entscheidung.) Udo Jürgens.Bild: Kafi Freitag
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Liebe Kafi, ich stehe hier gerade vor einem moralischen und seelischen Dilemma. Um es kurz zu machen: Ich bin schwanger. 

22.10.2014, 13:2623.10.2014, 14:14

Mein ganzes Inneres sträubt sich gegen dieses Kind. Ich habe bereits zwei wunderbare Jungs und liebe diese über alles. Beide sind noch recht klein, aber jetzt gerade im Alter, dass ich wieder anfangen könnte zu arbeiten. Nein, ich brauche keine Moralapostel, die mir sagen, ich hätte eben besser verhüten sollen. Es ist nun mal so passiert und nun bin ich ziemlich zerrissen. Einerseits halte ich wirklich nichts davon abzutreiben. Doch andererseits freue ich mich nicht über das Baby und ich liebe den Vater auch nicht. Ich halte ihn für einen guten Menschen, aber überhaupt nicht reif, die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Er schafft es ja nicht mal, sein eigenes Leben auf die Reihe zu bekommen. Und ich sehe auch keine Zukunft für uns beide, weil ich, wie gesagt, keine Gefühle für ihn habe, außer freundschaftliche. Nun muss ich in weniger Zeit eine wirklich bedeutende Entscheidung treffen. Bekomme ich dieses Kind oder nicht? Ich habe schon mit meinen beiden Anderen in allen Sachen ständig allein gestanden, was am Ende zu einer Scheidung geführt hat. Und ich möchte das nicht wieder durchmachen müssen. Ich habe tierische Angst, das nochmals zu müssen. Und Angst, es nicht zu schaffen. Angst, dieses Kind nicht lieben zu können, wie es es verdienen würde. Aber auch Angst vor einer Abtreibung. Kosten, die ich vielleicht nicht tragen kann. Seelische und moralische Aspekte, die mich womöglich belasten werden. Und ich habe nicht mehr viel Zeit, um mich zu entscheiden. Wie denken Sie darüber, Kafi? Was würden Sie tun? Liebe Grüße. Selina, 27

Kafi Freitag
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Liebe Selina 

Sie haben mir diese Frage vor über einer Woche geschrieben, ich hoffe sehr, dass meine Antwort dazu nicht zu spät kommt. Ihre Verzweiflung kann ich gut aus Ihren Worten lesen und auch gut nachempfinden. Das ist wirklich keine einfache Situation, in der Sie sich befinden. Und der zeitliche Druck macht die ganze Sache auch nicht gerade entspannter. Dennoch kann ich Ihnen die Entscheidung nicht abnehmen und ich werde Ihnen auch nicht sagen, wie ich an Ihrer Stelle handeln würde. Dieser Entschluss ist ein zu wichtiger, als dass Sie ihn aufgrund einer fremden Meinung fassen dürfen.

Aber ich will ein paar meiner Gedanken mit Ihnen teilen und vielleicht helfen diese Ihnen ja, den inneren Frieden zu finden, den Sie gerade so dringend benötigen.

Wichtig ist, dass Ihnen bewusst ist, dass Sie das Recht haben, sich gegen dieses Kind zu entscheiden. Nicht nur gesetzlich, sondern auch ethisch und moralisch. Sie dürfen Nein sagen und das Kind abtreiben. Und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob das Kind wegen eines Verhütungsunfalls oder wie auch immer gezeugt wurde. Sie dürfen. Es gibt viele gute Gründe, die gegen ein Kind sprechen. Sie haben einige davon aufgezählt.

Die Sorge, dass Sie dieses Kind nicht würden lieben können, wie die anderen beiden, sehe ich allerdings als weniger gravierend an. Es ist ein grosses Phänomen, aber Mütter sind auch imstande Kinder anzunehmen und zu lieben, die unter ganz anderen Umständen gezeugt wurden und die nicht ins Konzept passen. Sie fragen sich, ob Sie dem Kind eine gute Mutter sein könnten. Es kann gut sein, dass es materiell gesehen enger wird und Sie dem Kleinen nicht alle Wünsche erfüllen können, wie Sie es bei den anderen beiden bis anhin imstande waren. Aber das macht keine gute Mutter aus. Wärme und Geborgenheit sind die Qualitäten, die ein Kind in erster Linie braucht.

Wenn Sie dieses Kind bekommen würden, bräuchten Sie finanzielle Unterstützung und Hilfe. In Ihrer sehr emotionalen Situation sind Sie vielleicht nicht mehr so imstande, pragmatisch zu planen. Aber es lohnt sich wirklich, wenn Sie sich mal mit einem Block hinsetzen und aufschreiben, wer Ihnen konkret helfen könnte. Sind Eltern da, die Ihnen zur Hand gehen könnten? Freundinnen? Wäre es vielleicht möglich, diese mal konkret zu fragen oder weiss niemand von Ihrem Dilemma? In der Regel findet sich eine Lösung, aber es kann sein, dass es mit einigem Organisationsaufwand verbunden ist, wenn Sie mit dem dritten Kind wieder arbeiten möchten. Führen Sie Ihre Gedanken ins Konkrete, weg vom grossen Unbekannten.

Und stellen Sie sich ehrlich und offen der Frage, wie gut Sie sich selber verzeihen können. Es ist leider eine Tatsache, dass alle Frauen in meinem Umfeld, von denen ich weiss, dass Sie abgetrieben haben, deswegen in irgendeiner Form einen Hau weghaben. Eine Abtreibung ist heutzutage keine grosse Sache mehr, aber die psychischen Nachwirkungen sind wirklich nicht zu unterschätzen und selbst noch so toughe Frauen kommen damit an Ihre Grenzen. Und es ist sinnvoll, wenn man sich in dieser Situation fachliche Unterstützung holt und sich durch den Prozess begleiten lässt.

Darum müssen Sie sich fragen, was Ihr Leben negativer beeinflussen wird: ein Kind oder die Gewissheit, dass Sie ein Kind abgetrieben haben? Diese Frage ist keine moralische und keine Antwort ist richtiger als die andere. Es geht nur darum herauszufinden, womit Sie besser leben können.

Dafür ist es sinnvoll, sich mal gedanklich in beide Situationen zu versetzen. Nehmen Sie zwei Bogen Papier und schreiben Sie auf den einen «Leben mit 3. Kind» und auf den anderen «Leben nach Abtreibung» und legen Sie beide auf den Boden. Nun stehen Sie zuerst auf den einen und schauen, was mit Ihnen passiert. Wie fühlt es sich an, welche Bilder kommen hoch? Überwiegt das Negative oder die Erleichterung? Wenn Sie alle Eindrücke gesammelt haben, stehen Sie auf den anderen Bogen und machen dort das Gleiche. Es ist wie ein kleiner Sprung in die eigene Zukunft. Was fühlt sich richtiger an? Und ja ich weiss, es wird sich nichts von beidem wirklich richtig anfühlen, das dürfen Sie nicht erwarten. Aber vermutlich wird es bei einem etwas ruhiger, weniger schwer sein.

Sie stehen vor der schwierigsten Entscheidung, die eine Frau treffen muss, liebe Selina. Unabhängig davon, wie Sie entscheiden, wird es sich vermutlich niemals nur richtig oder falsch anfühlen.

Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie die für sich passendere Entscheidung treffen und diese dann ruhigen Herzens leben können.

Mit einer gedanklichen Umarmung. Ihre Kafi.

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Kafi Freitag (39) beantwortet auf ihrem Blog www.FragFrauFreitag.ch Alltagsfragen ihrer Leserschaft. Daneben ist sie Mitbegründerin einer neuen Plattform für Frauen: Tribute.ch

Im analogen Leben führt sie eine Praxis für prozessorientiertes Coaching (www.FreitagCoaching.ch) und fotografiert leidenschaftlich gern. Sie ist verheiratet und Mutter eines zehnjährigen Sohnes. 


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3 Kommentare
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Der Ort, an dem die Frauen baggern
Ich war für ein Wochenende in Davos und habe eine kleine Analyse und eine Nummer für euch mitgebracht.

Wer in Zürich jemanden kennenlernen will, so im echten Leben, in einer Bar oder einem Club, ich rede hier nicht von den ganz verrückten Dingen, die nur in Filmen passieren, wo sich Leute am helllichten Tag auf dem Trottoir kreuzen und so verzaubert sind, dass sie umdrehen und einander auf der Stelle ehelichen, nein, ich rede hier vom billigbanalen, promillebedingten Ansprechen an Orten, wo man sich kaum sieht und hört, davon rede ich, und auch das passiert in Zürich nie. Mir nicht, meinen Freundinnen und Freunden nicht und dir ganz bestimmt auch nicht. Ausser vielleicht, du siehst aus wie Jennifer Lawrence. Aber wer sieht schon aus wie Jennifer Lawrence? Eben.

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