Für einmal hat es nicht geklappt mit Autostöppeln: Um 19.30 Uhr, nach fast eineinhalb Stunden an einer Autobahneinfahrt, brechen meine Freundin Lea, die derzeit mit mir reist, und ich die Übung ab. Die Enttäuschung hält sich in Grenzen, denn wir waren uns bewusst, dass es nicht einfach wird, im Halbdunkeln eine Mitfahrgelegenheit zu finden.
Wir trotten zurück in Richtung Zentrum der chinesischen Millionenstadt Leshan. Die Einheimischen beäugen uns neugierig, einige winken oder rufen uns freundlich zu. Wir sind uns das mittlerweile gewohnt in China, doch im Moment wollen wir einfach nur ein Bett finden und sind nicht in Stimmung für eine Unterhaltung mit Händen und Übersetzer-App.
Plötzlich fragt uns eine junge Frau in relativ gutem Englisch: «Sucht ihr ein Hotel? Dann folgt mir!»
He Min ist 25 Jahre alt und freut sich, dass sie ihre Englischkenntnisse anwenden kann. Nach wenigen Minuten betritt sie strahlend ein kleines Hotel, in dem eine Freundin von ihr arbeitet, und präsentiert stolz die beiden Fremden im Schlepptau. Die Hochstimmung hält aber nicht lange an, denn die Freundin erklärt He Min, dass das Hotel keine ausländischen Gäste aufnehmen dürfe.
Lea und ich sind nicht überrascht. Wir wurden in China schon mehrere Male abgewiesen und haben auf dem Weg durch die kleinen Gassen bereits gewerweisst, ob das hier, in einem Aussenquartier von Leshan, anders sein wird.
Unsere Helferin überlegt kurz und fragt dann: «Wollt ihr bei mir übernachten?» Wir nehmen gerne an – und He Mins Strahlen ist sofort zurück. Wenige Minuten später kämpfen wir uns die Treppen hoch zu He Mins Wohnung im fünften Stock.
Oben angekommen atmet He Min mindestens so schwer wie wir mit unseren grossen Rucksäcken. «Das ist, weil ich so dick bin», sagt sie – immerhin für ihr ansteckendes Lachen hat sie noch Luft.
Schuhe und Jacken behalten wir an, gleich wie He Min. In ihrer Wohnung ist es kaum wärmer als draussen. Es hat zwei kleine Schlafzimmer, eine wenig gemütliche Stube mit zwei Sofas und einem Holztisch, einen ungenutzten Zwischenraum sowie eine winzige Küche, die man durchqueren muss, wenn man ins noch winzigere Bad will.
Dort gibt es ein Lavabo, an dessen Wasserhahn man vergeblich dreht. Daneben einen Eimer mit einer Duschbrause fürs Händewaschen. Und wenige Zentimeter weiter eine Hocktoilette, die nicht nur der Verrichtung der Notdurft dient, sondern gleichzeitig auch der Platz zum Duschen ist.
Beobachtet wird man bei alledem von einem 30 Zentimeter langen Fisch, der in einem zweiten Eimer seine Runden dreht. «Den essen wir irgendwann», erklärt uns He Min.
Um 21 Uhr kommt He Mins Ehemann Qian Hua Hai nach Hause. Der 27-Jährige spricht zwar kein Wort Englisch, lacht aber noch mehr als seine Frau. Sie sind sehr angenehme Gastgeber, weil sie sich ganz normal verhalten, miteinander herumflachsen und uns nicht überbehüten.
Als uns He Min eine Teespezialität aus der Region anbietet, fragen wir, warum sie sich selbst keine Tasse einschenkt. Die erfrischend ehrliche Antwort: «Ich mag ihn nicht.» Qian Hua Hai wiederum nimmt sein Abendessen ein, als ob wir gar nicht da wären – inklusive schlürfen, schmatzen und rülpsen.
Die beiden wollen Fotos sehen von meiner Reise. Mit grossen Augen betrachten sie die Bilder aus Europa, dem Mittleren Osten, Zentralasien und dem Norden Chinas. «Wir würden auch gerne reisen, aber das geht nicht, weil wir einen zweijährigen Sohn haben», sagt He Min. Wir sind überrascht, zeigen auf die Wohnung, in der nichts auf die Anwesenheit eines Kleinkindes hindeutet, und fragen: «Aber wo ist er?»
He Mins traurige Antwort: «Er lebt bei seinen Grosseltern.»
Der Grund: He Min und Qian Hua Hai müssen von Montags bis Samstags arbeiten. «Wir haben deshalb schlicht keine Zeit für den Kleinen.» Doch das ist nicht alles: Weil die Grosseltern in einer 400 Kilometer weit entfernten Kleinstadt wohnen und die beiden kein Auto haben, sehen sie ihren Sohn nur einmal pro Jahr – am chinesischen Neujahr, wenn sie die einzige Ferienwoche des Jahres haben.
Lea und ich können kaum glauben, was wir da hören. «Doch wieso sucht ihr euch nicht einen Job in der Nähe eurer Grosseltern?», wollen wir wissen. «Das ist nicht so einfach», antwortet He Min. Zudem gefalle es ihnen hier in Leshan sehr gut, sie hätten schon hier studiert.
Danach zeigen sie uns Bilder vom Kleinen, wie er lacht und spielt – meist ist auch die Grossmutter auf den Bildern. Bei jedem unserer «So süss!» schwingt eine grosse Portion Wehmut mit. Wir wollen die beiden nicht verurteilen, dazu wissen wir zu wenig über die genauen Verhältnisse. Aber wir können einfach nicht nachvollziehen, wie man so weit weg vom eigenen Kind leben kann.
Und wir erinnern uns daran, was uns in einem Hostel eine kritische junge Chinesin über das offizielle Ende der Ein-Kind-Politik in China gesagt hat: «Selbst wenn die Menschen jetzt mehr als ein Kind bekommen dürfen, macht das für viele keinen Unterschied. Sie können sich gar kein zweites Kind leisten.»