Germán ist ein 52-jähriger Banker aus Costa Rica. Der kleingewachsene, drahtige Mann hat sich gut gehalten. Er wirkt fast jugendlich, wenn er mit seinen schnellen, kurzen Schritten durch sein Heimatdorf läuft und jeden grüsst, der ihm über den Weg läuft. Nur das braungebrannte, leicht faltige Gesicht sowie ein ergrautes Ziegenbärtchen verraten, dass Germán kein Jungspund mehr ist.
Doch abgesehen von Alter, Beruf, Nationalität und Äusserem – wer ist Germán? Nachdem meine Freundin Lea und ich 15 Stunden mit ihm verbracht haben, könnten wir diese Frage auf vier verschiedene Arten beantworten:
Allerdings nicht eines der ruhig-brummigen, liebenswert-mürrischen Sorte, wie es sie in der Schweiz so oft gibt, sondern ein extrem kontaktfreudiges Exemplar. Er springt in der kleinen Karaoke-Bar von einem Tisch zum anderen, schüttelt unzählige Hände und scherzt mit den alteingesessenen Gästen genauso wie mit der jungen Kellnerin, die seine Nichte ist. Mit der rundlichen Tanzbärin, welche die Ex-Frau eines seiner Brüder ist, schwingt er gekonnt die Hüften. Und er setzt sich wie selbstverständlich zu den zwei Fremden aus der Schweiz an den Tisch, die sich in das kleine costa-ricanische Kaff Tarcoles verirrt haben.
In seinem kleinen Haus, das keine hundert Meter von der Bar entfernt ist, liegen Gegenstände, die nicht in vielen Haushalten zu finden sind. Zwei der drei Zimmer sind mit Fischernetzen vollgestopft und deshalb nicht begehbar. Auf der Terrasse hinter dem Haus kämpft die aufgehängte Wäsche gegen wildernde Pflanzen und einen Berg leerer Plastik-Wasserbehälter um den spärlichen Platz. Und das Frühstückstischchen ist zur Hälfte mit Muscheln bedeckt, die Germán aus dem Pazifischen Ozean gefischt hat. Es ist ein Zuhause, das auf der Dorftratsch-Agenda von Tarcoles einen fixen Platz haben dürfte.
Er hat vier erwachsene Söhne von drei verschiedenen Frauen. Seine aktuelle Freundin, die ab und zu bei ihm übernachtet, gehört aber nicht zu den Müttern seiner Kinder. Ein besonders fürsorglicher Familienmensch ist Germán aber definitiv nicht. Das beweist die Tatsache, dass er seine einzige Enkeltochter, die seit acht Monaten auf der Welt ist, erst zweimal gesehen hat – und das, obwohl die Kleine im gleichen Dorf lebt wie er. Noch bedenklicher ist jedoch, dass Germán nicht einmal weiss, wie seine Enkelin heisst.
Als Lea und ich sagen, dass wir mit unserem Zelt auf dem Spielplatz im Dorfzentrum übernachten wollen, bietet uns Germán sofort ein Zimmer in seinem Haus an – obwohl wir uns gerade einmal seit einer halben Stunde kennen. Damit wir Platz haben, ruft er auf der Strasse nach einem Kumpel, der ihm hilft, die Fischernetze auszulagern. Er legt eine Matratze auf den Boden, zieht sie frisch an und stellt einen Ventilator in unser Zimmer, welcher die Hitze in der Nacht erträglicher machen soll. Am nächsten Morgen bereitet Germán Kaffee, frischen Fisch, Rührei und Tortillas für uns zu. Dann sagt er mit einer herzlichen Umarmung goodbye.
Also, nochmals die Frage: Wer ist Germán? Kann jemand gut sein, der den Namen seiner einzigen Enkeltochter nicht kennt? Kann jemand ein Schlechter sein, der Wildfremde in seinem Haus aufnimmt? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass sich Germán in keine Schublade einordnen lässt – und dass ich auf meiner Reise schon ganz viele Germáns getroffen habe.