Viele Religionsgemeinschaften beschwören die Liebe als Ausdruck grosser Frömmigkeit. Liebe zu Gott, Liebe zum Guru, Liebe zum Nächsten («Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst» usw.)
Diese Liebe geht bei freikirchlichen Gläubigen oft sogar so weit, dass sie auch ihrem Partner gegenüber offen zugeben, Jesus mehr zu lieben als ihn. Deshalb tischen sie manchmal beim Frühstück auch «ihrer erster Liebe» Besteck auf und glauben, Jesus nehme auf dem leeren Stuhl Platz.
Doch welche Liebe ist gemeint? Meist nicht die Liebe, die wir im Bett pflegen. Denn Sex hat für Strenggläubige oft etwas Anrüchiges. Der Trieb ist mit Versuchung verbunden. Und den assoziieren viele Fromme mit der Versuchung.
Sexualität hat für sie etwas Unberechenbares, Animalisches und passt schlecht zum Bild von den braven Lämmlein Gottes. Doof ist da nur, dass ohne Sex die Welt aussterben würde.
Dumm auch, dass fromme Christen, Juden und Muslime von den Geistlichen angehalten werden, sich fleissig zu vermehren, damit die Gläubigen nicht ganz in die Minderheitsposition geraten und von den Ungläubigen marginalisiert werden.
In ihrem Dilemma haben freikirchliche Gläubige ein Geheimrezept ersonnen. Ihre magische Losung: «Wahre Liebe wartet». In der Sprache der Freikirchen heisst es: Kein Sex vor der Ehe.
Die Vorstellung der Gläubigen: Sex mit einem Partner zu haben, dem man nicht vor Gott die ewige Treue geschworen hat, ist unrein. Eine junge Gläubige formulierte es so: «Weil ich kein Sex vor der Ehe hatte, war ich kein ‹Secondhand› an der Hochzeit.»
Die Botschaft: Sex ist des Teufels, wenn er nicht mit der oder dem Einzigen und Wahren praktiziert wird. Doch wie finden die Gläubigen den richtigen Partner? Ganz einfach: Jesus führt in seiner Gnade angeblich die richtigen Paare zusammen und gibt den Verliebten ein entsprechendes Signal.
Psychologisch gesehen sind solche Botschaften aus dem Jenseits Einbildungen und Projektionen. Denn wer so richtig verliebt ist, der weiss, dass wir von Gefühlen überschwemmt werden und nicht mehr ganz zurechnungsfähig sind. Es ist dann ein kleiner Schritt, die überwältigenden Emotionen als Zeichen des Himmels zu werten.
Nur: Es kommt auch in freikirchlichen Kreisen regelmässig zu Scheidungen. Aus Sicht der Gläubigen würde dies bedeuten, dass Jesus die falsche Wahl getroffen hat.
Der Kult, mit Sex zu warten, kommt – wie so vieles Unseliges – aus den USA. In den 90er-Jahren entstand eine eigentliche freikirchliche Bewegung. Die jungen Gläubigen unterschrieben eine Verpflichtung, bis zur Hochzeit zu warten.
Heute gibt es tolle Partys, bei denen Mädchen ihrem Vater geloben, keusch in die Ehe zu gehen. Immerhin wird nicht wie bei manchen muslimischen Frauen eine medizinische Prüfung verlangt, ob das Hymen noch intakt ist.
Junge Mädchen schriftlich zu verpflichten, bis zur Heirat auf Sex zu verzichten, ist eine psychologische Todsünde und ein geistlicher Missbrauch. Schliesslich sind die Betroffenen noch nicht geschlechtsreif und können nicht abschätzen, was sie unterschreiben.
Die Bewegung «Wahre Liebe wartet» schwappte bald nach Europa über. Die Anhänger bei uns unterschreiben folgende Verpflichtung: «In dem Glauben, dass wahre Liebe wartet, verpflichte ich mich vor Gott, gegenüber mir selbst, meiner Familie, meinen Freunden, meinem zukünftigen Ehepartner und meinen künftigen Kindern, von diesem Tag an sexuell enthaltsam zu leben bis zum Tag meiner kirchlichen Heirat.»
Du heiliger Bimbam. Das schaffen nur Gläubige: Sich gegenüber dem zukünftigen Ehepartner und den künftigen Kindern zu verpflichten, keusch zu leben. Da wird der eigene Körper im vorauseilenden Gehorsam zum Feind gemacht.
(Bertrand Russell in: „Warum ich kein Christ bin“, Szcesny Verlag 1963, S. 39)