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Gedanken zum Tod von Tugçe A. und zum Phänomen Zivilcourage.
29.11.2014, 14:1301.12.2014, 15:57
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Gestern ist Tugçe A. gestorben. Nachdem sie am Mittwoch für hirntot erklärt worden war, wurden gestern Abend, an ihrem 23. Geburtstag, die lebenserhaltenden Geräte auf Wunsch der Eltern abgeschaltet.

Tugçe hatte sich bei der Belästigung zweier Mädchen auf der Toilette einer Fastfood-Filiale in Offenbach eingemischt, wurde im Anschluss vom mutmasslichen Täter gegen die Schläfe geschlagen und fiel mit dem Kopf auf den Asphalt, was zu einem Schädel-Hirn-Trauma führte und Tugçe ins Koma fallen liess. Das war am 15. November.

Seither ist das Thema Zivilcourage ein grosses – in Deutschland, aber auch hier. Endlich! Tragischerweise musste erst eine junge Frau totgeprügelt werden, damit mal wieder darüber geredet wird, dass Wegschauen hier- (und dortzulande) an der Tagesordnung ist.

Und so einfach ist dieses Thema auch nicht. Es handelt sich um einen ungeheuren Balanceakt, um das Abschätzen, wann und wie man einschreiten soll und wann nicht. Streiten sich zwei auf der Strasse, kann es sich um ein Liebespaar handeln, dass sein Anger Management nicht ganz im Griff hat, aber auch um eine tatsächlich bedrohliche Situation. Brüllt der Nachbar regelmässig seine Kinder an, kann es sich um Überforderung handeln, weil die Kleinen gerade in die Pubertät starten, aber auch um tatsächliche, psychische Misshandlung.

Fakt ist: Einschreiten erfordert Mut. Zum einen, weil man sich selber einem gewissen (körperlichen) Risiko aussetzt, zum andern, weil man sich lächerlich machen könnte. Das passierte mir einmal, als ich einen Mann an einer Tramstation ziemlich drohend und aufgeplustert mit einer jungen Frau sprechen sah. Ich musste mich enorm überwinden, hinzugehen und die Frau zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Mein Mut wurde leider nicht belohnt, weil die junge Dame, ihrerseits relativ stark alkoholisiert, mich ankeifte, der Typ sei ihr Freund und «Was mischisch dich ii, Bitch?» und sie mich im Anschluss gemeinsam lauthals auslachten.

Ja. Da kam ich mir ziemlich dumm vor und hinterfragte danach tatsächlich, ob es mein Platz gewesen sei, einzuschreiten.

Gemäss einer Studie der Uni Marburg (2003) schreiten gerade einmal 30% aller Beobachtenden ein, wenn sie eine verbale oder physische Attacke auf eine einer ethnischen Minderheit angehörigen Person beobachten. Gründe dafür waren, wie oben erwähnt, dass die Leute Angst hatten, selber plötzlich exponiert zu sein oder angegriffen zu werden. 

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Zivilcourage erfordert also Wissen und Handlungskompetenz. Ich muss mich zu wehren wissen und sicher sein, dass ich im Recht bin. Und genau diese Werte lassen sich schulen. Die Universität Zürich bietet solche Schulungen an. Unter anderem lernen die Teilnehmer, ihre eigenen Werte neu zu überdenken und sich ihrer wieder bewusster zu werden, bekommen die psychologischen Hintergründe von Zivilcourage vermittelt, üben konkretes Verhalten ein und erstellen sich «Verhaltenspläne» für zukünftige Situationen. 

Drei Tipps für alle finden sich im «NZZ Folio» (04/08): «Eine erstaunte Nachfrage auf eine diskriminierende Aussage, ein hörbarer Protest auf eine abschätzige Bemerkung, ein freundliches Wort zu einer ausgegrenzten Person» – diese Aktionen können schon die deeskalierende Grundlage von Zivilcourage sein. 

Seitens des/der Angegriffenen können Selbstverteidigungstrainings helfen: Nur schon, wenn man als Angegriffene/r weiss, welche Signale andere animieren, einzuschreiten, kann das von zentraler Bedeutung sein. 
Drei dieser Grundregeln sind: Ein lautes, klares «NEIN», wenn einem jemand zu nahe kommt, eine klare Abwehrhaltung einnehmen (schwache Hand nach vorn, starke Hand nach hinten) und, ganz wichtig und oft vergessen: den/die Angreifenden immer siezen. Als Aussenstehende/r ist es so deutlich, dass man den/die Angreifenden nicht kennt und es sich nicht um eine Situation unter Freunden handelt.

Wie man sieht: Zivilcouragiertes Verhalten kann trainiert werden. Selbstverständlich ist es in der eigentlichen Situation dann adrenalinbedingt immer noch eine andere Geschichte, ob und wie man das Gelernte umsetzen kann.

Kofi Annan sagte einmal: «Das Böse braucht das Schweigen der Mehrheit.» Auch jemanden zu unterstützen, der sich zivilcouragiert gegen Diskriminierung oder Gewalt wehrt, kann von grosser Bedeutung sein. 

Denn auch Hinsehen kann – so wie es das Wegsehen leider noch oft ist – ansteckend sein.

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Yonni Meyer
Yonni Meyer schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt. 

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Wie ich dem Tod von der Schippe sprang
Ich muss weg. Einfach mal raus in die Natur. Abschalten. Kein Internet. Kein Netflix. Nur ich und ich. Klingt theoretisch super. Praktisch erlebe ich mein eigenes Blair Witch Project.

Ich bin genervt. Von Sandros Rastlosigkeit, von meinem Vermieter, vom Wohnungsmarkt, vom Wetter, von Cleo und von meiner Cellulitis. Also eigentlich macht mich die ganze Welt hässig. Sogar die Teenies, die an der Bushaltestelle Deutsch-Rap hören und auf den Boden spucken. Und dann bin ich genervt davon, dass mich das nervt.

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