Drei Tage lang versetzten islamistische Killer unser Nachbarland in Angst und Schrecken. Ihr erstes Ziel war die Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo», die stets – indem sie es nutzte – das Recht verteidigt hatte, Religionen zu kritisieren und zu verspotten. Noch bevor die Attentäter ihren «Märtyrertod» fanden, warnten manche Stimmen davor, nun die Muslime oder den Islam pauschal für das Gemetzel verantwortlich zu machen. Mit Recht – pauschale Schuldzuweisungen sind so falsch wie verheerend.
Falsch ist allerdings auch die oft gehörte Aussage, die Bluttat von Paris habe nichts mit dem Islam zu tun. Wie es TAZ-Autor Deniz Yücel in einem Gastkommentar auf Welt.de formuliert: «Den Islam gibt es nicht, der Islam ist die Summe dessen, was diejenigen, die sich auf ihn berufen, daraus machen. Und was ein nennenswerter Teil daraus macht, ist Barbarei.»
Das besonders in fortschrittlichen Kreisen spürbare Bedürfnis, den Islam vor Kritik in Schutz zu nehmen, verdankt sich dem ehrenwerten Motiv, den dumpfen Fremdenfeinden in ihrer Hetze gegen die Minderheit der Muslime nicht zu sekundieren. Im Grunde ist diese Vorsicht aber auch ein Indiz dafür, dass man diese jüngste der drei abrahamitischen Religionen gar nicht wirklich ernst nimmt.
Der Islam in all seinen Erscheinungsformen hat ein Recht darauf, kritisiert zu werden. In einer offenen Gesellschaft hat er, wie alle anderen Religionen – mehr noch: wie alle Ideengebäude –, ein Recht auf Kritik. Kritik, die zuweilen auch ungerecht, bösartig und falsch sein kann. Das Christentum, vor allem dessen katholische Spielart, muss ebenfalls ertragen, dass seine Symbole aufs Derbste verspottet werden.
Spätestens seit der Aufklärung ist die einst nahezu allmächtige Kirche mit harscher Kritik konfrontiert. Voltaire, einer der wichtigsten Aufklärer, warf der christlichen Religion vor, sie habe «seit Konstantin mehr Menschen vernichtet, als es Einwohner in Europa» gebe. Kein Wunder, verbot die katholische Kirche seine Schriften.
Die Aufklärer setzten im 18. Jahrhundert dem wissenschaftlichen Anspruch der christlichen Theologie zu. David Hume zertrümmerte alle rationalen Begründungen der Religion; Immanuel Kant räumte mit allen metaphysischen Gottesbeweisen auf. Gotthold Ephraim Lessing wiederum plädierte in seinem Drama Nathan der Weise für gegenseitige Toleranz zwischen Judentum, Christentum und Islam.
Voltaire griff nicht nur die Kirche an («Écrasez l’infâme!» – «Zermalmt die Niederträchtige!»), sondern auch Islam und Judentum. Die Juden bezeichnete er als «das abscheulichste Volk der Erde», fand indes gönnerhaft: «Man soll sie jedoch nicht verbrennen.» Den Koran nannte er ein «unverdauliches Buch, das bei jeder Seite den gesunden Menschenverstand erbeben» lasse. Seine Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète dagegen ist eher eine allgemeine Abrechnung mit religiösem Fanatismus als eine Kritik Mohammeds. Der französische Klerus zeigte denn auch ein feines Gespür für die Stossrichtung des Stücks und verbot es.
Ein spätes Echo dieser Zensur war Ende 1993 in Genf zu vernehmen: Damals sollte der «Mahomet» anlässlich von Voltaires 300. Geburtstag aufgeführt werden. Dazu kam es aufgrund von Protesten muslimischer Verbände nicht. Zwölf Jahre später, im Dezember 2005, wurde das Stück dann doch noch inszeniert – auch diesmal nicht ohne Widerstand. «Wir akzeptieren die Meinungsfreiheit, aber wir verlangen Respekt», sagte damals der Sprecher der Genfer Moschee.
Attacken gegen die Legitimität der Religionskritik kommen freilich nicht nur von muslimischer Seite. Katholische Fundamentalisten, wie zum Beispiel die Mitglieder der «Deutschen Vereinigung für eine christliche Kultur» (DVCK), lobbyieren nicht nur gegen das Recht auf Abtreibung, sondern verlangen auch den «absoluten Schutz christlicher Symbole vor Blasphemie». 2013 rief die erzkonservative Piusbruderschaft, in der sich katholische Traditionalisten sammeln, ihre Anhänger dazu auf, die deutsche Komikerin Carolin Kebekus wegen Gotteslästerung anzuzeigen.
Auch von protestantischer Seite gibt es Klagen über Blasphemie. Dabei kann es zu merkwürdigen Verrenkungen kommen, etwa wenn die streng konservative calvinistische Partei SGP in den Niederlanden die Abschaffung des Gesetzes gegen Gotteslästerung bekämpft, zugleich aber die Abschaffung des Blasphemiegesetzes in Pakistan fordert. In kreationistischen Kreisen, die in den USA besonders stark sind, kann schon eine Cola-Werbung, die mit dem Konzept der Evolution spielt, als gotteslästerlich angesehen werden.
Kritik an der Religion – und das ist Kritik an Meinungen, nicht an den Menschen – ist ein unabdingbarer Teil der Streitkultur der Aufklärung. Wer sie einschränkt, ermutigt die Fanatiker erst recht, noch weitere Einschränkungen zu fordern. Auf dem Spiel stehen Meinungs-, Presse-, Kunst- und am Ende Forschungsfreiheit.
Religionskritik beschneidet die Freiheit der Religionen nicht, ganz im Gegensatz etwa zum skandalösen Minarettverbot. Im Gegenteil, in letzter Konsequenz ermöglicht sie überhaupt erst Religionsfreiheit. Wir brauchen nicht mehr Religion, wir brauchen mehr Aufklärung.