Charlie Hebdo
Gesellschaft & Politik

Entsetzen über Pariser Massaker – aber auch Kritik am Westen und «Charlie Hebdo»

«Je suis Charlie»: Kundgebung in der marokkanischen Hauptstadt Rabat.
«Je suis Charlie»: Kundgebung in der marokkanischen Hauptstadt Rabat.Bild: Abdeljalil Bounhar/AP/KEYSTONE
Reaktionen in Nahost

Entsetzen über Pariser Massaker – aber auch Kritik am Westen und «Charlie Hebdo»

10.01.2015, 12:5710.01.2015, 13:35
Mehr «Charlie Hebdo»

Mit Wut und Entsetzen reagierten die Medien in Nahost, von Marokko bis Iran, auf das Blutbad bei der Satirezeitung «Charlie Hebdo» in Paris. «Massaker während Redaktionssitzung» lautete die Schlagzeile der panarabischen Tageszeitung «Al-Sharq Al-Awsat», die in London erscheint. «L'Orient-Le Jour», eine französischsprachige Zeitung im Libanon, titelte mit «Frankreichs 11. September der Gedankenfreiheit». Von einem «11. September für Karikaturisten» sprach der bekannte algerische Zeichner Ali Dilem in der Zeitung «Le Matin».

Manche gaben den Standpunkt ihres Regimes wieder. So vermeldete die halbamtliche ägyptische Zeitung «Al Ahram», Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi verurteile den Angriff auf «Charlie Hebdo». Dabei hat seit Sisis Machtantritt eine regelrechte Jagd auf kritische Journalisten in Ägypten begonnen. Sie werden als «Terroristen» denunziert, verprügelt, niedergeschossen oder landen im Gefängnis. Für sie klingen solche Worte «wie blanker Hohn», heisst es in der Online-Ausgabe von «Die Zeit».

Titelseite der libanesischen Zeitung «L'Orient-Le Jour».
Titelseite der libanesischen Zeitung «L'Orient-Le Jour».

Medienschaffende haben im Nahen Osten kein leichtes Leben. Wirklich frei arbeiten können nur wenige. Von den Behörden werden sie gegängelt, zensiert und malträtiert. Gleichzeitig müssen sie mit der ständigen Bedrohung durch Extremisten leben. Der bekannte syrische Karikaturist Ali Ferzat wurde im August 2011 vermutlich von Schergen des Regimes verschleppt und brutal misshandelt, weil er den Machthaber Baschar al-Assad mit spitzer Feder aufs Korn genommen hatte.

Kritik an Golfstaaten

Vereinzelt wagen sich kritische Köpfe nun aus der Deckung heraus. So verurteilte ein Kommentar in «Al-Sharq Al-Awsat» nicht nur den Terroranschlag in Paris, sondern auch jene, die solche Taten rechtfertigen und unterstützen. Dies könne man «durchaus als Hieb gegen Golfstaaten lesen, die wortreich vor Terrorismus warnen und gleichzeitig genau jenen religiösen Fanatismus praktizieren, auf den sich offenbar auch die Attentäter von Paris berufen», schreibt die Korrespondentin der «Zeit».

Karikatur in der libanesischen Zeitung «Al-Nahar».
Karikatur in der libanesischen Zeitung «Al-Nahar».

Gemeint ist nicht zuletzt das Königreich Saudi-Arabien, das zwar an der Seite des Westens gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kämpft, gleichzeitig aber dank den Einnahmen aus dem Ölexport seinen Steinzeit-Islam in die ganze Welt exportiert. Die saudische Regierung verurteilte den Anschlag auf «Charlie Hebdo» ebenfalls. Am Freitag jedoch liess sie den Blogger Raif Badawi öffentlich auspeitschen, weil er die religiösen Hardliner kritisiert hatte.

Weitaus häufiger als selbstkritische Stimmen liest man jedoch Kritik am Westen, der nun «seine eigene Medizin» zu schmecken bekomme, so die «Financial Times». Viele in der Region würden die westlichen Militäreinsätze in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und Mali für den Aufstieg der Terrorgruppen verantwortlich machen. Frankreichs terroristische «Eigengewächse» seien «durch die Innen- und Aussenpolitik ihrer Regierung ermutigt worden», hiess es in einem Kommentar des staatlichen iranischen Fernsehsenders Press TV.

«Charlie Hebdo»-Macher keine Helden

Und obwohl viele Nahostmedien den Slogan «Je suis Charlie» verwenden, werden auch die Macher des Satireblatts nicht von Kritik verschont, etwa in der libanesischen Zeitung «Al Akhbar». Der Kolumnist Yazan al-Saadi verwahrt sich darin gegen das Etikett «Helden» für die Terroropfer: «Es ist nicht heldenhaft, wenn ein paar elitäre weisse Autoren und Zeichner sich über die Identität und den Glauben von Minderheiten lustig machen. Satire soll sich gegen die Mächtigen richten und nicht auf den Schwachen herumtrampeln.» 

Muslime im Clinch zwischen Extremisten und dem Westen.
Muslime im Clinch zwischen Extremisten und dem Westen.Karikatur: khalid Albaih

Allerdings haben gerade die Macher von «Charlie Hebdo» nichts und niemanden geschont, besonders die Mächtigen in Frankreich. Einen der stärksten Beiträge zum Thema liefert der sudanesische Zeichner Khalid Albaih auf der Website des Fernsehsenders Al Jazeera: «Ich verurteile die Angriffe auf die Karikaturisten, obwohl ich mit der redaktionellen Linie der Publikation nicht übereinstimme, die ich häufig verletzend und rassistisch fand. Trotzdem würde ich für ihre Redefreiheit einstehen.»

Albaih hatte sich während des Arabischen Frühlings 2011 einen Namen gemacht als «Künstler der Revolution». Für ihn sind die Muslime in doppelter Hinsicht die Verlierer. Sie würden ständig aufgefordert, sich für ein Verbrechen zu entschuldigen, das sie weder begangen noch unterstützt haben. Und wenn sie sich distanzieren, «ziehen sie den Zorn der Extremisten auf sich».

Terror in Paris

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07.01.2015: Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo»
Sieben weitere Personen sind verletzt. Vier von ihnen schweben in Lebensgefahr.
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11 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Triumvir
10.01.2015 14:41registriert Dezember 2014
Der treffenste und beste Beitrag hat meines Erachtens der Chefredakteur von TITANIC verfasst
"Es lebe der Witz!"
von Tim Wolff, Chefredakteur TITANIC
Es ist anläßlich der fürchterlichen Morde in Paris wohl nötig, mal wieder Grundsätzliches über Komik und Satire zu sagen. Denn nicht nur islamistischen Terroristen, so unsere Erfahrung bei der Titanic, fehlt es da an der Grundausstattung. Komik ist zu allererst ein Mittel, dem Ernst des Lebens, der die meisten von uns bedrückt, selbst wenn nicht gerade Raketenwerfer in Redaktionsräumen abgefeuert werden, etwas entgegenzusetzen, im besten Falle seiner Herr zu werden. Und je ernster die Lage, desto wichtiger der Humor. Komik schafft Distanz zu bedrückenden Ereignissen, sie erlaubt, uneigentlich über eigentlich Unerträgliches zu sprechen – und so den Schrecken zu bekämpfen. Sehr viele Komikunkundige, ob Islamisten, Rassisten oder deutsche Durchschnittsjournalisten, begehen meist den Fehler, einen Witz auf einen unkomischen, ernsten (und zumeist noch auf einem Mißverständnis beruhenden) Aussagekern herunterbrechen zu wollen. Die einen, weil sie den Witz auslöschen wollen; die anderen, weil sie glauben, Satire und Komik zu ernsten Themen sei nur angebracht, wenn sie „wertvoll“, „geistreich“ oder was auch immer ist.
Es ist natürlich schöner, wenn Komik auch noch eine kluge Botschaft transportiert, aber sie ist auch ohne sehr viel wert. Das müßten die meisten Menschen eigentlich wissen, denn sie praktizieren es privat. Als etwa gestern ca. 100 Journalisten Interviews und Statements von mir haben wollten, fielen immer wieder Wendungen wie „Wir wollten Sie nicht überfallen“ oder „Schießen Sie los“ – und was taten diese Leute, als Ihnen auffiel, was sie da gerade versehentlich, aus Routine gesagt hatten? Sie lachten. Nicht etwa, weil sie sich damit über die ermordeten Satiriker lustig machten, sondern weil ihre üblichen Phrasen auf einmal in einem anderen Kontext standen, eine Bedeutung bekamen, die sie nicht haben sollten. Dahinter steckt keine wertvolle Aussage, es nimmt schlicht für einen Moment dem Ernst die Macht.
Und das dürfte der Grund sein, weswegen Fanatiker, speziell religiöse, Komik verachten. Sie vertreten eine todernste, einzige ewige Wahrheit, und der Witz – egal wie klug oder lustig er im Einzelfalle sein mag – bedroht diese Wahrheit. Religion (und so manch andere Weltanschauung) ist Wahnsinn im Kleide der Rationalität, Satire und Komik Rationalität im Kleide des Wahnsinns. Das eine muß das andere mißverstehen. Deshalb werden Vertreter des heiligen Ernstes der Komik stets mit Zorn begegnen. Und es ist ihr gutes Recht. Solange sie dies mit denselben Waffen wie Satiriker tun: mit Wort und Bild. Und nicht mit Maschinenpistolen.
Seit gestern gilt mehr denn je: Es lebe der Witz. Der kluge. Der platte. Jeder, der genügend Menschen findet, die über ihn lachen. Und für alle, die ihn nicht mögen, sollte mehr denn je gelten: Ertragt ihn oder ignoriert ihn. Ihr werdet der Komik nicht Herr
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