Justizministerin Simonetta Sommaruga zieht die Schraube an. «Angriff auf die Privatsphäre» ist noch das höflichste, was Medien zuletzt über den Ausbau der staatlichen Internetüberwachung schrieben.
Konkret will der Bund künftig nicht nur Handy- und Internet-Nutzer jederzeit identifizieren können (was längst Realität ist), sondern neu auch wissen, wer, wann und wo einen offenen WLAN-Hotspot bei McDonalds, Starbucks etc. genutzt hat. Der gläserne Bürger wird somit auch in der Schweiz Realität.
Die neue Verordnung über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Vüpf) aus Sommarugas Justiz- und Polizeidepartement bringt Netzaktivisten, die seit Jahren vor der flächendeckenden Internet- und Mobilfunküberwachung gewarnt haben, auf die Palme. Sie rufen auf Facebook und Twitter dazu auf, Sommarugas Verordnung mit Tausenden offenen Gast-WLANs zu unterlaufen, die ohne Registrierung und somit anonym genutzt werden können.
Wir sind eine 🇨🇭 Bewegung netzpolitisch interessierter Menschen.
— #CHFreeWiFi (@CHFreeWiFi) 13. April 2017
Konfiguriere Gast-WiFi mit SSID #CHFreeWiFi gegen #BÜPF/#VÜPF!
(Bitte RT) pic.twitter.com/g1eNpzozuk
Laut Eigenbeschreibung ist #CHFreeWiFi «eine Bewegung netzpolitisch interessierter Menschen.» Hinter dem Twitter-Account @ChFreeWifi steht Fredy Künzler, Winterthurer SP-Politiker und Gründer des Internet-Anbieters Init7. Vor genau einer Woche hat er mit diesem Tweet den Widerstand gegen «Sommarugas Totalüberwachung» ausgerufen.
Wenn 10000 Menschen die Gast-WiFi Funktion mit der SSID #CHFreeWiFi ohne Passwort konfigurieren, ist #BÜPF und #VÜPF Makulatur. Please RT!
— Fredy Kuenzler (@kuenzler) 13. April 2017
Bei Überwachungsgegnern hat der Aufruf zum zivilen Ungehorsam gefruchtet: Nach einer Woche sind schweizweit über 130 offene WLAN-Hotspots mit dem Namen #CHFreeWiFi online. Ihre genauen Standorte sind auf dieser Karte verzeichnet.
#CHfreeWifi So viele sind es schon!!!! Macht weiter Leute! @omenzi @JorgoA @spkantonbern @sp_aarau pic.twitter.com/FaR1Bn5cTi
— Ulrich Grieb (@amilopowers) April 15, 2017
Um selbst einen offenen #CHFreeWiFi-Hotspot einzurichten, muss man lediglich den Namen des eigenen Gast-WLANs in #CHFreeWiFi umbenennen und das Passwort deaktivieren.
So sollte das aussehen...
— Marco (מרקו) Tedaldi (@zeitungsjunge) 17. April 2017
Einfach Gast-WLAN ohne Passwort mit SSID #CHFreeWiFi einrichten, fertig. pic.twitter.com/WMhHV5rQVB
Das Kalkül der Netzaktivisten ist einfach: Mit den schweizweit aufpoppenden #CHFreeWiFi-Hotspots wird die Überwachung ad absurdum geführt – allerdings nur, wenn Tausende oder Zehntausende mitmachen und ihr Gast-WLAN für Dritte freigeben.
Genau davon rät Rechtsanwalt Martin Steiger ab:
Ein offenes Gast-WLAN ist grundsätzlich nicht strafbar, aber es besteht ein Restrisiko, dass man in Teufels Küche gerät. Dies, wenn Dritte über das offene WLAN eine Straftat begehen. Man kann zwar argumentieren, dass man als Betreiber eines Public-WLANs grundsätzlich keine straf- und zivilrechtlichen Folgen für rechtswidrige Handlungen von Nutzern befürchten muss, wenn man davon keine Kenntnis hat. «Grundsätzlich» bedeutet aber auch, dass man negative Folgen für sich nicht vollständig ausschliessen kann (siehe Infobox).
Je mehr Schweizer der staatlichen Internetüberwachung mit einem offenen Gast-WLAN begegnen, desto schwieriger werde es für den Staat, die einzelnen Hotspot-Betreiber zu bestrafen, glauben die Netzaktivisten.
Herr Künzler, wer oder was ist die Bewegung #CHFreeWiFi?
Fredy Künzler: Es sind Leute, die den Überwachungswahnsinn ablehnen oder mindestens eine kritische Haltung dazu haben. Der Bundesrat hat in Büpf und Vüpf einfach den Wunschkatalog der Strafverfolgung copy-pasted und das Parlament hat es versäumt, genügend zu korrigieren. Nachdem das Referendum gegen das Überwachungsgesetz Büpf gescheitert ist, ist #CHFreeWiFi der stille Protest von vielen.
Warum stört es Sie, dass die Polizei bei einer schweren Straftat die Kommunikation über öffentliche WLAN-Hotspots auswerten kann?
Der Bundesrat will mit der neuen Überwachungsverordnung Vüpf ein, zwei dumme Kleinkriminelle fangen, indem man den unbürokratischen Betrieb von offenen WLANs verunmöglicht. Das ist etwa so, wie wenn man ein, zwei dumme Schwarzfahrer des öffentlichen Nahverkehrs fangen will und dafür jedermann zuerst durch Passkontrolle und Security wie am Flughafen muss, bevor man ins Tram einsteigen darf. Also totaler Verhältnisblödsinn.
Wie genau funktionieren die #CHFreeWiFi-Hotspots?
So wie jedes andere WLAN wird auch #CHFreeWiFi auf dem Handy angezeigt, wenn es in Reichweite ist. Ist man erst mal mit einem verbunden gewesen, sollte sich das Gerät beim nächsten Mal an einem anderen Ort automatisch wieder mit dem #CHFreeWiFi-Hotspot verbinden. Dies dank der einheitlichen SSID #CHFreeWiFi (mit Hash).
Wenn sich das Handy automatisch in einen #CHFreeWiFi-Hotspot einloggt, ist das natürlich bequem. Je mehr es davon gibt, desto praktischer. Es können alle profitieren, und jeder kann seinen Internet-Anschluss ohne extra Kosten dafür freischalten. Ein moderner Router hat eine Gast-WLAN Funktion. Ausserdem kann ein ausrangierter WLAN-Accesspoint im Gestell so zu neuem Leben erweckt werden.
Ein paar offene WLAN-Hotspots verhindern die flächendeckende Überwachung auch nicht.
Wenn es Tausende von #CHFreeWiFi-Accesspoints gibt, dann ist das ein starkes Signal an Parlament und Bundesrat, dass die Bevölkerung nicht einfach so die ganze Strafverfolgungs-Wunschliste schluckt, und man doch bitteschön Verhältnismässigkeit wahren sollte. Die Vüpf muss noch einmal in die Rechtskommission, der Bundesrat darf nicht einfach so entscheiden.
Sie rufen zu einem politischen Statement auf. Als Betreiber eines offenen WLANs riskiere ich aber ein Strafverfahren, wenn Dritte über mein WLAN eine Straftat begehen.
Wer einen #CHFreeWiFi-Hotspot ohne Passwort betreibt, tut grundsätzlich nichts illegales. Es gibt auch keine Haftung dafür, wenn eine Drittperson über diesen Internet-Zugang eine Straftat begeht.
Anwälte warnen aber von einem Restrisiko ...
Das Risiko, dass die eigene IP-Adresse wegen Missbauch des #CHFreeWiFi-Hotspots von den Strafermittlern nachgefragt wird, halte ich für sehr gering, also etwa gleich wie jene eines Lotto-Sechsers.
Und falls doch?
Die Strafverfolgung müsste zweifelsfrei beweisen, dass man tatsächlich eine Straftat begangen hat. Dazu könnte natürlich auch eine Hausdurchsuchung oder Beschlagnahmung eines Computers erfolgen. Das ist zwar unangenehm, aber noch nicht der Weltuntergang. Zum Vergleich: Dass man an einer Friedens-Demo ein Gummigeschoss oder eine Schwade Tränengas abbekommt, ist ebenfalls unwahrscheinlich, aber möglich. Die Teilnahme an einer Demonstration ist nichts für Obrigkeitsgläubige oder Angsthasen. Genau so wenig ist es #CHFreeWiFi.