Am Grab von Julien brennen 3664 Kerzen. Die erste wurde im September 2012 angezündet, wenige Tage nachdem der zehnjährige Bub verstarb. Die letzte gestern Abend. Sie stammen von den Eltern, Verwandten und Freunden, aber auch von Fremden. Und alle Kerzen brennen noch – vielleicht werden sie nie erlöschen. Denn es handelt sich um virtuelle Kerzen.
Auf einem Trauerportal im Internet haben die Eltern für ihren verstorbenen Sohn ein Profil eingerichtet. Dort können sie, auch eineinhalb Jahre nachdem ihnen Julien entrissen wurde, ihrer Trauer Ausdruck geben und symbolisch eine Kerze anzünden. «Du fehlst uns so sehr Schatzi», steht dort. Und Fotos zeigen, was für ein fröhliches Kind Julien einmal war.
Während die Friedhöfe in der realen Welt zunehmend verwaisen, boomen virtuelle Gedenkstätten im Internet. Die Portale heissen «trauer.de», «hommages.ch» oder «memorta.com». Dieser Tage lancieren auch die AZ Medien, Herausgeberin der «Aargauer Zeitung», mit «gedenkzeit.ch» ein eigenes Gedenkportal (siehe Box).
Trauerportale sind virtuelle Friedhöfe, die von jedem Ort der Welt immer nur einen Klick entfernt sind. Wenn ein Freund am anderen Ende der Welt stirbt, bietet das virtuelle Grab einem die Möglichkeit, sich von ihm zu verabschieden, ohne eine teure, beschwerliche Reise auf sich nehmen zu müssen. Virtuelle Gräber sind für alle erreichbar.
«Eine neue Öffentlichkeit der Trauer entsteht», sagt die Soziologin Nina Jakoby von der Universität Zürich, die das Phänomen erforscht. Die Web-Memorials können zwar mit Passwörtern geschützt und so nur dem Bekanntenkreis zugänglich gemacht werden. Die meisten Nutzer verzichten aber darauf. So erhalten die Hinterbliebenen oft auch Mitgefühl und Verständnis von anderen. «Als ich die Anzeige von dem Kleinen sah, musste ich weinen. Ich wünsche den Eltern viel Kraft», schreibt etwa eine Mutter auf die Profilseite von Julien.
Die Gedenkportale verändern aber das Abschiednehmen noch in einer anderen Hinsicht. In der westlichen Gesellschaft gäbe es neben der Bestattung keine wirklichen Trauerrituale, welche die Beziehung mit den Toten weiterführten, sagt Nina Jakoby. In unserem Alltag wird erwartet, dass die Hinterbliebenen nach einer Trauerphase den Schmerz überwinden und sich neu auf das Leben einstellen. «Die Portale im Internet bieten den Menschen nun eine Möglichkeit, lang andauernde Trauergefühle auszudrücken und zu verarbeiten», erklärt die Soziologin.
Neben den Trauerportalen bietet auch Facebook die Möglichkeit, Verstorbener zu gedenken. Nach dem Tod eines Facebook-Nutzers lässt sich dessen Profil in den «Gedenkzustand» versetzen. Das Profil ist dann nur noch für die Facebook-Freunde des Toten einsehbar, Gruppenzugehörigkeiten werden gelöscht. Familienangehörige und Freunde können jedoch weiter Posts anbringen. Auf Wunsch können die Hinterbliebenen sogar ein kurzes Rückblickvideo mit den wichtigsten auf Facebook geteilten Momenten und Fotos des Verstorbenen generieren lassen.
Um das Profil in den «Gedenkzustand» zu versetzen, muss der Nachweis des Todes in Form einer Todesanzeige oder einer Sterbensurkunde erbracht werden. Gleiches gilt, wenn man das Profil löschen will – sofern man das Passwort des Verstorbenen nicht kennt. Reagieren die Angehörigen nicht, bleibt das Profil bestehen.
Alle 20 Sekunden stirbt irgendwo auf der Welt ein Facebook-Mitglied. Alleine in der Schweiz sind es hochgerechnet jährlich über 3000. Hält der Erfolg des sozialen Netzwerks an, könnten einmal mehr tote als lebende Nutzer auf dem Portal anzutreffen sein. Ein sinnvoller Umgang mit dem digitalen Nachlass von Verstorbenen ist deshalb nicht unwichtig.
Doch nur die grossen Online-Dienste wie Facebook oder Google bieten dafür ein standardisiertes Verfahren an. «Die Mehrheit der Internetdienste beruft sich auf den Datenschutz und verweigert den Zugriff auf die Daten von Verstorbenen für Hinterbliebene kategorisch», sagt Elke Brucker-Kley, die an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) das Forschungsprojekt «Sterben und Erben in der digitalen Welt» leitet.
Oft ist nicht klar, wo der Verstorbene im Netz überall seine Spuren hinterlassen hat. Verschiedene Anbieter wie Semno oder Columba haben sich deshalb auf das Aufspüren des digitalen Erbes spezialisiert. Um den digitalen Nachlass im Netz zu sichern, suchen die Spezialisten auf dem Computer und dem Smartphone des Verstorbenen nach Zugangsdaten. Sind die im Netz hinterlassenen Fotos, Dokumente, Filme und Musikstücke erst einmal gesichtet, stellt sich die Frage, was man damit macht. Die Daten löschen oder im Internet belassen? «Für Hinterbliebene kann diese Frage sehr belastend sein», weiss Elke Brucker-Kley.
Wer es seiner Familie einfach machen will, regelt seinen digitalen Nachlass bereits zu Lebzeiten, indem er die Passwörter an seine nächsten Verwandten hinterlegt – auch dafür gibt es Dienste im Netz wie etwa Death Switch oder Secure Safe oder Ziggur – und Anweisungen hinterlässt, was mit den Daten passieren soll. Dafür muss man sich aber zuerst einmal selber klar werden, wie man nach seinem Tod im Netz weiterleben möchte. Denn das Internet kann uns alle ein bisschen «unsterblich» machen – so wie den grossen Dichtern ihre Werke zur «Unsterblichkeit» verholfen haben. Denn unsere Daten bleiben in der digitalen Sphäre konserviert. Sie sind zugänglich für alle, wer nach uns sucht, der findet uns. «Im virtuellen Raum wird eine Nähe zwischen Verstorbenen und Hinterbliebenen neu hergestellt», sagt Nina Jakoby. Die technische Entwicklung macht es möglich: Als digitale Identität überleben wir unseren Tod.