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«Google ist fantastisch, aber eine grosse Gefahr»

Gerd Folkers: «Wir brauchen mehr Geisteswissenschafter in der Terror-Debatte».
Gerd Folkers: «Wir brauchen mehr Geisteswissenschafter in der Terror-Debatte».Bild: KEYSTONE
Interview

«Google ist fantastisch, aber eine grosse Gefahr»

Gerd Folkers, neuer Präsident des Wissenschaftsrats, über künstliche Intelligenz, warum Wissenschafter selbst nach Terroranschlägen stumm bleiben und weshalb Schweizer Start-up-Firmen trotz genialen Erfindungen der ausländischen Konkurrenz hinterherhinken.
19.04.2016, 16:5519.04.2016, 18:18
yannick nock / schweiz am Sonntag
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Ein Artikel von Schweiz am Sonntag
Schweiz am Sonntag

Wenn es um Forschung in der Schweiz geht, wendet sich der Bundesrat an ihn: Gerd Folkers (63), deutscher Chemieprofessor an der ETH Zürich, ist seit Jahresbeginn Präsident des Schweizerischen Wissenschaftsrats. Er will dem Gremium mehr Einfluss verschaffen, in den Kammern des Parlaments, aber auch auf die öffentliche Meinung. Folkers kritisiert, dass heute viele kluge Köpfe stumm bleiben – aus Angst vor Shitstorms. Dabei könnten Geistes- und Sozialwissenschafter in der Terror-Debatte einen entscheidenden Beitrag leisten.

Herr Folkers, mit welchem Anliegen ist der Bundesrat zuletzt an Sie herangetreten?
Gerd Folkers: Wie wir mit den Institutionen nach Artikel 15 FIFG umgehen wollen.

Und jetzt noch auf Deutsch, bitte.
Der Wissenschaftsrat gibt seine Einschätzung, ob Forschungsinstitute essenziell für die Schweiz sind und wie sie die Zukunft des Landes beeinflussen könnten. Ich darf aber keine konkreten Beispiele nennen.

In der öffentlichen Debatte spielt der Wissenschaftsrat keine Rolle.
Das ist unser Fehler, das möchten wir verbessern. Der Rat hat sich in der Vergangenheit in gut schweizerischer Art zurückgehalten und seine Aufgaben abgearbeitet.

Und Sie wollen nun auf gut deutsche Art mehr Aufmerksamkeit?
Richtig, da ist auch nichts Falsches dran. Es geht doch darum: Tue Gutes und sprich darüber. Wir wollen ein Sprachrohr der Science Community sein. Ich werde einmal wöchentlich nach Bern reisen und auch während der Session den Parlamentariern unsere Sicht vermitteln.

Ein grosses Thema sind die Terroranschläge in Paris und Brüssel. Die Politik fokussiert sich auf Polizeiaufgebote und Überwachung. Müsste der Wissenschaftsrat mehr auf die Ursachen des Terrorismus hinweisen?
Natürlich. Bis jetzt habe ich in den Zeitungen bedauerlicherweise kaum schlaue Analysen zum Terror gelesen. Wissenschafter könnten das Thema durchdringen und zwei Punkte erklären: Erstens die Motivation der Täter und zweitens die Reaktion der Gesellschaft, die Sicherheitsfragen priorisiert. Gerade jetzt wäre es gut, die Stimme der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu hören. Sie müssten einen Diskurs anzetteln, warum es Terroranschläge überhaupt gibt, wie sie entstanden sind, was die Religionen wirklich sagen und was das soziale Milieu damit zu tun hat. Das würde uns helfen, Lösungen zu finden.

Dieser Diskurs scheint auf der Strecke zu bleiben.
Wissen Sie, früher gab es Philosophen, die sich ungefragt zu Einsteins Relativitätstheorie geäussert haben. Und zwar so kompetent, dass Einstein mit dem Essay von Ernst Cassirer in der Gegend herumgelaufen ist und gerufen hat: «Der hat gesagt, es sei richtig.»

Warum ist das nicht mehr der Fall?
Das hat mehrere Gründe. In vielen Zeitungen gibt es kein Feuilleton mehr, was eigentlich die spitzeste Feder des Journalismus sein sollte, weil man seine Gedanken auf hohem Niveau ausbreiten kann. Dabei finde ich immer wieder unglaublich kluge Gedanken im Feuilleton, weil sich dort unglaublich kluge Leute äussern. Heute wollen das die Zeitungen wohl aus kommerziellen Gründen nicht mehr. Vielleicht wird das Feuilleton schlicht nicht mehr gelesen.

«Unter den Artikeln knallen heute die Kommentare reihenweise rein, bum, bum, bum. Es kommt kaum zu einer direkten Diskussion, nur noch zum emotionellen Abreagieren.»

Es fehlt aber auch an herausragenden Köpfen.
Mir fallen einige ein: die Historiker Thomas Maissen und Jakob Tanner, sicherlich Adolf Muschg. Aber genauso Lukas Hartmann.

Die müssen doch nicht auf die Journalisten warten, wenn sie sich äussern wollen.
Ich finde, solche klugen Köpfe schalten sich viel zu wenig in die öffentliche Debatte ein. Es gibt noch viele mehr, die etwas zu sagen hätten, aber wir sind in einem Klima, wo einige vor der öffentlichen Reaktion zurückschrecken, weil sie heute über die modernen Medien unmittelbar Aggressionen und Shitstorms ausgesetzt sind. Das ist nicht mehr lustig. Unter den Artikeln knallen heute die Kommentare reihenweise rein, bum, bum, bum. Es kommt kaum zu einer direkten Diskussion, nur noch zum emotionellen Abreagieren.

Klingt resigniert.
Nein, ich bin ja Idealist, wir müssten eben in mühevoller Arbeit zu einer Debattenkultur zurückkommen und weniger diese überall auftauchenden Podiumsdiskussionen zelebrieren. Jede grosse Zeitung hat ihr Podium. Oben sitzen vier kluge Leute, ein schicker Moderator, dann darf jeder vier Mal seine Meinung sagen, und schon sind eineinhalb Stunden rum, und Zuhörer haben überhaupt keine Partizipation. Man müsste doch auch einmal rausgehen können, miteinander diskutieren und dann zurückkommen und sehen, welchen Kommentar man abgeben möchte. Niemand hat die Weisheit so gepachtet, dass er mir jetzt die Welt erklären kann. Wir benötigen eine permanente Diskussion. Dafür brauchen wir Geistes- und Sozialwissenschafter, die sich stärker einmischen.

Die SVP beklagt regelmässig, es gäbe zu viele Geistes- und Sozialwissenschafter.
Ich will mich nicht diplomatisch rausreden. Aber das ist nicht nur ein Gedanke der SVP, auch wenn sie versuchen, ihn zu monopolisieren. Aber Sie dürfen nicht übersehen, dass weltweit Geistes- und Sozialwissenschaften geschlossen oder reduziert werden, weil sie für die Rankings weniger wichtig scheinen. Die Beiträge dieser Fachrichtungen und was sie zur allgemeinen Erkenntnis der Menschheit leisten, können nicht in den üblichen Rankings erfasst werden. Da sind wir beim Kardinalproblem.

In der Schweiz ist dieses Verständnis aber noch da.
Hier ist das Problem weniger akut als beispielsweise im asiatischen Raum und leider manchen Teilen Europas. Auch die Amerikaner haben immer noch fantastische History- und Arts-Departments.

«Die Schweiz ist eine der führenden Wissenschaftsnationen der Welt. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.»

Wie gefährdet sind die Schweizer Hochschulen, falls sie aus den europäischen Förderprogrammen fallen?
Sagen Sie doch dem Roger Federer: Wir haben in Escholzmatt einen wunderbaren Tennisplatz, da brauchen Sie kein Wimbledon. Das wäre für ihn natürlich indiskutabel. Beim Förderprogramm Horizon 2020 geht es nicht ums Geld, sondern darum: Sind wir international wer oder eben nicht. Die Schweiz ist eine der führenden Wissenschaftsnationen der Welt. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.

Genau deshalb hat doch auch die EU Interesse an einem Verbleib der Schweiz.
Die Wissenschaftsgemeinde hat ein grosses Interesse. Bei der Politik weiss ich es nicht. Aber dafür ist Politik doch da, ich kann nur sagen: Löst das Problem mit Brüssel! Ich bin zuversichtlich. Es wird einen politischen Weg geben. Wir wären ausserordentlich dumm, wenn wir keine Kompromisse eingehen würden. Das habe ich auf Nachfrage auch dem Bundesrat gesagt. Ich habe keine Zweifel, dass wir die Programme allein finanzieren könnten, aber es geht um den Wettbewerb. Unsere jungen Leute müssen auf Augenhöhe mit Forschern aus anderen Ländern bleiben.

Worin ist die Schweizer Forschung einmalig?
Ganz bestimmt im Ingenieurbereich und im Maschinenbau, natürlich in der Chemie und den Life Sciences. Der private Forschungssektor ist gigantisch gross, die Schweiz ist mit keinem anderen Land vergleichbar. Die Hochschulen leisten – wie aus den Rankings ersichtlich – ebenfalls Spitzenforschung. Grossartige Voraussetzungen, das könnte aber noch weit komplementärer werden.

Wo hinkt die Schweiz hinterher?
Bei der Umsetzung des Wissens. Was die vielen Hunderte von reichlich klugen Leuten in der Schweiz herausgefunden haben, ist beeindruckend, aber sie sind im Vergleich zum Ausland nicht fähig, damit Geld zu machen. Warum das so ist, ist mir ein Rätsel. Das hat wahrscheinlich mit einer Risikovermeidung zu tun. Wir gründen genügend Start-up-Unternehmen, aber sie wachsen nicht schnell genug oder verschwinden wieder. Warum hat die ETH so wenig Einhörner? Also junge Unternehmen, Start-ups – nicht älter als zehn Jahre –, die mindestens mit einer Milliarde Dollar bewertet werden? Zuletzt gab es einen Vergleich zwischen der Schweiz, Israel und Schweden. Israel hat fünf Einhörner, Schweden fünf, die Schweiz eines. Das hätte ich nicht erwartet. Warum schaffen wir das nicht?

Welche Frage treibt Sie neben den Einhörnern um?
Momentan besonders die Singularität, also der Moment, in dem uns die künstliche Intelligenz auf Augenhöhe erwischt. Wenn ich sehe, was Leute dem iPhone alles abkaufen, frage ich mich, ob wir den Punkt nicht bereits erreicht haben. Heute wird alles gemessen und bewertet, ihr Einkauf mit den Cumuluspunkten, die Universitäten, das grösste Schweizer Talent. Big Data überall. Wie sieht die künftige Medizin aus? Ist das weiterhin ein traditionelles Medizinstudium, oder wird das Google sein? Google behauptet von sich, Grippeepidemien oder einen Herzinfarkt besser vorhersagen zu können, wenn man alle vorhandenen Daten berücksichtigt.

Wie sehen Sie es? Google oder Medizinstudium?
Das weiss ich nicht, darum denke ich ja darüber nach. Google ist fantastisch im Verrechnen von Daten. Das ist eine grosse Chance, aber auch eine grosse Gefahr. Ich weiss nicht, ob Kausalitäten verloren gehen. Phänomene wie der Placebo-Effekt werden nicht berücksichtigt. Wir haben an der ETH aber einige kluge Köpfe für diese Frage. Neue Technologien wie das selbstfahrende Auto sind doch absolut genial. Dann ist es nämlich egal, wie lange Sie im Stau stehen. Schon heute ist das Auto der letzte Ort der Welt, an dem Sie noch sich selbst sein können. Sie können telefonieren, mit wem Sie wollen, Sie können rauchen, die Musik hören, die Ihnen gefällt, oder Sie können schimpfen, auf wen Sie wollen. Und dass die Autos jetzt noch selbst fahren, ist doch super.

Zurück zur klassischen Medizin und zu einer der grossen Streitfragen: Was halten Sie vom Numerus clausus?
Ein Numerus clausus ist grundsätzlich negativ. Man sollte junge Leute in ihrer vollen Faszination das machen lassen, was sie wirklich wollen. Ob es einen Test gibt, der die intrinsische Motivation erkennt, wage ich zu bezweifeln.

Dann müssten aber Hunderte zusätzliche Plätze geschaffen werden.
Nur weil alle Leute ‹hier!› schreien, wenn man fragt: ‹Wollt ihr Medizin studieren?›, muss das nicht sein. Die Leute, die wirklich wollen, werden auch ein Jahr warten können oder zwischenzeitlich ein Praktikum in der Krankenpflege machen. Wenn es eine Zulassungsbeschränkung geben soll, dann muss sie anders umgesetzt werden. Bei der aktuellen Auswahl frage ich mich: Gibt das später die besseren Ärzte als jene, die es nicht geschafft haben? Vielleicht würde es mehr bringen, wenn sich die Leute in einem Assessment beweisen könnten. Wir benötigen junge Menschen mit einem inneren Feuer – in allen Hochschulbereichen.

Forschung in der Schweiz
Gemäss dem Schweizerischen Nationalfonds wurden zuletzt 18,5 Milliarden Franken im Jahr in die Forschung gesteckt. Am meisten investiert die Privatwirtschaft. Die Schweiz zählt zu den Ländern, die im Verhältnis zum BIP am meisten Geld für Forschung ausgeben.
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