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Das Boot kenterte, und alle 250 Passagiere ertranken. Es war das Boot vor dem Boot, mit dem Koudous Seihon 2007 als 21-Jähriger von Libyen nach Lampedusa floh. Koudous und die andern erfuhren vor ihrer Abreise von dem Unglück, das da erst einen Tag zurück lag, aber sie fuhren trotzdem los. Bereits die Flucht quer durch Afrika war für viele ein Sterben auf Raten gewesen. Wirklich schlimmer konnte es nicht mehr kommen. Und dann erreichten sie Italien, und Koudous fand einen Job auf einer Orangenplantage, für einen Stundenlohn von 2 Euro 50.
Seit Mai 2015 ist Koudous auf den Filmfestivals dieser Welt zuhause. Als Star seiner eigenen Geschichte, festgehalten im Film «Mediterranea». Angefangen hat seine zweite grosse Reise an den Filmfestspielen in Cannes, es folgten München, Stockholm und Zürich, wo er völlig übermüdet mit mir spricht. Denn direkt vor Zürich arbeitete er in Venedig, fuhr zum Flughafen und wollte in die Schweiz fliegen. Dort hiess es: «Ich brauche Ihren Reisepass. Und Ihre Arbeitserlaubnis. Und Ihr Visum für die Schweiz.»
Er sagte: «Bitte? Ich reise doch im Schengenraum, da brauch ich doch kein Visum! Ich holte selbst die Polizei, weil ich wissen wollte, wieso ich nicht in die Schweiz reisen kann. Die Polizei sagte: ‹Weil du nicht kannst.›»
Er redete fünf Stunden lang: «Zwei Stunden mit dem Flughafenpersonal, drei Stunden mit der Polizei, weil ich verstehen wollte, wieso das nicht ging. Ich wurde immer aufgebrachter, und kurz bevor sie mich verhaften wollten, kam mir die Idee mit dem Zug. Ich ging zum Bahnhof, nahm den Zug, kein Problem, hier bin ich.»
Koudous kommt aus Burkina Faso. «Ich hatte eine gute Frau, aber keine Arbeit. Ich musste also an eine Küste kommen, um nach Europa zu emigrieren, aber damit ich das tun konnte, brauchte ich Geld. Das war eine mehrjährige Reise. Zuerst arbeitete ich in Algerien, aber da verfolgte mich die Polizei, dann für ein Jahr in Libyen, doch da war die Polizei noch schlimmer und nahm mir alle Papiere weg. Aber ich schaffte es nach Italien, wo es eine Demokratie gibt und Arbeit. Ich wollte meine Würde zurück.»
Im Januar 2010 erlebte Koudous die Rassenunruhen von Rosarno. Als Einheimische afrikanische Flüchtlinge angriffen und diese schliesslich zurückschlugen. Die Einheimischen zündeten die Unterkünfte der Afrikaner an, die Polizei brachte die Afrikaner in Gefängnissen unter.
Der römische Regisseur Jonas Carpignano, 31, beschloss, über Rosarno einen Film zu drehen. Mit Darstellern, die das alles erlebt hatten. Ein Reenactment gewissermassen, eine Doku-Fiction. So lernte er Koudous kennen. Sie drehten «Mediterranea», den Film über die Flucht des Afrikaners Ayiva, die auf den Erfahrungen von Koudous basiert.
«Mediterranea» ist unmittelbar, distanzlos, stark, ganz subjektiv aus der Sicht des Flüchtlings, der nicht bereit ist, noch einmal alles zu verlieren. Der in der andern Heimat genauso hart kämpft wie in der alten. Kein «guter» Flüchtling, aber ein engagierter. Mit einem riesigen Wissen um Menschenrechte und Menschenwürde. Eine Handkamera unterstützt den Dokumentarcharakter.
Der Ort in Kalabrien, wo Koudous jetzt lebt, sagt Jonas, ist das erste Städtchen in Italien, das heute sichtbar von Afrikanern bevölkert ist. «Die Italiener verlassen Kalabrien und wandern in den Norden. Weshalb der Zustrom von Immigranten die soziale Landschaft von Kalabrien in den letzten Jahren umso deutlicher verändert hat. Die tendenziell eher ältere und extrem traditionelle einheimische Bevölkerung wird gezwungen, ihre Heimat neu zu betrachten.» Da geht es um langsame, aber unausweichliche Veränderungen.
«Heute ist Kalabrien ohne Schwarze nicht mehr denkbar. Aber ein schwarzer Italiener, das ist immer noch eine grosse Sache. Der Fussballer Mario Balotelli zum Beispiel, dessen Eltern aus Ghana stammen.» Und was ist mit Shakespeares Othello? «Richtig! Eine ganz andere Art von Italiener – reich, mächtig, aus dem Norden –, aber auch ein schwarzer Italiener.»
Die Afrikaner in Italien sind heute, was die italienischen Gastarbeiter früher in der Schweiz waren. Jonas Carpignano hofft, dass es ihnen gelingt, Italien ähnlich zu prägen: «Ich warte immer noch auf das erste senegalesische oder burkinesische Restaurant in Kalabrien. Wenn das passiert, sind wir auf einem guten Weg in eine neue Welt mit neuen Definitionsrastern. Für meine Generation etwa sind die Grenzen, die vor vielen, vielen Jahren gezogen wurden, sowieso bedeutungslos. Wir identifizieren uns nicht mehr über eine Grösse wie Italien, sondern über Dinge, die uns gefallen. Musik etwa. Und die ist international.»
So, wie im Film. Dort ist es Rihanna. Die Ayiva, seine kleine, in Afrika zurückgebliebene Tochter und die Tochter seines italienischen Chefs alle miteinander verbindet. Und allen Halt und Heimat gibt.