Interview
Kinder

«Das Thema Sexting wird ausgeschlachtet und dramatisiert»

Wie führt man Jugendliche an den richtigen Umgang mit dem Internet heran? Ein Experte gibt Auskunft.
Wie führt man Jugendliche an den richtigen Umgang mit dem Internet heran? Ein Experte gibt Auskunft.Bild: Shutterstock
Interview mit Experte Philippe Wampfler

«Das Thema Sexting wird ausgeschlachtet und dramatisiert»

Viele Eltern wissen nicht, was ihre Kinder genau im Internet treiben und mit wem sie dort zu tun haben. Philippe Wampfler, Experte für Lernen mit neuen Medien, schätzt die Lage in der Schweiz dennoch als wenig bedrohlich ein.
13.05.2014, 08:5026.11.2014, 15:17
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Philippe Wampfler ist Lehrer und Experte für Lernen mit neuen Medien.
Philippe Wampfler ist Lehrer und Experte für Lernen mit neuen Medien.Bild: Zvg

Laut einer Studie von Pro Juventute wissen nur 15 Prozent der Eltern darüber Bescheid, mit wem ihre Kinder im Internet zu tun haben. Halten Sie dieses Ergebnis für besorgniserregend? 
Philippe Wampfler: Nein. Auch ausserhalb des Internets gilt: Eltern wissen nicht bei allen Kontakten, die ihre jugendlichen Kinder pflegen, genau Bescheid. Im Internet ist es ähnlich. 

Das heisst, der aktuelle Zustand ist völlig normal? 
Ja. Wir können nicht die Erwartung haben, dass Eltern über alle sozialen Beziehungen ihrer Kinder Bescheid wissen. Es gehört ja auch zu der Entwicklungsaufgabe von Jugendlichen, dass sie Kontakte aufbauen, die ausserhalb des Bekanntenkreises ihrer Eltern liegen. 

Ist es überhaupt realistisch, zu glauben, dass Eltern im Zeitalter von Smartphone und Co. die Kontrolle darüber haben können, was ihre Kinder im Internet tun? 
Nein, das ist illusorisch. Dieser Kontrollverlust lässt sich fast nicht mehr aufhalten.  

Bis zu welchem Alter ist es realistisch, dass Eltern Einfluss und Kontrolle haben? 
Eltern müssen ihre Kinder eng begleiten, wenn sie etwa zwölf, dreizehn Jahre alt sind. Wenn sie ins Internet gehen, dann muss das ganz gezielt stattfinden und es muss klar sein, welche Absichten sie haben. Von mir aus gesehen sollten Kinder unter zwölf Jahren nicht in Chatrooms gehen, um dort mit fremden Leuten Kontakt aufzunehmen. Aber ab einem gewissen Alter lässt sich das kaum verhindern.

Bis ins Alter von zwölf Jahren ist eine Kontrolle noch möglich? 
Ja. Und wenn man bis dahin eine gewisse Kultur etabliert hat, wo das Kind weiss, dass es mit seinen Eltern reden kann und sie es nicht für das, was es macht, verurteilen, dann hat man eine gute Grundlage geschaffen. Ich glaube aber, es braucht auch Vertrauen in das Urteilsvermögen der Jugendlichen. Die machen nicht generell fahrlässige und dumme Sachen.  

Was ist «Sexting»?
Der Ausdruck «Sexting» setzt sich aus den beiden englischen Wörtern ‹sex› und ‹texting› zusammen und bezeichnet den Austausch selbst produzierter intimer Fotos von sich oder anderen via Internet oder Mobiltelefon. Die Fotos werden einer bestimmten Person oder Personengruppe, über Textnachrichten, Instant Messaging oder Social-Media-Plattformen, zugänglich gemacht. (...) Sexting ist nicht zu verwechseln mit dem Versenden anonymer, nicht selbst produzierter pornografischer Darstellungen.

Eine aktuelle Kampagne von Pro Juventute soll Eltern zum Thema Sexualaufklärung im Zusammenhang mit der Cyberwelt sensibilisieren. Dabei geht es auch um das Thema Sexting. Wie verbreitet ist dieses Phänomen tatsächlich? 
Die einzige zuverlässige Studie ist die «James»-Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Die besagt, dass sechs Prozent der Jugendlichen das schon mal gemacht haben. Ich schätze, diese Zahlen sind für die heutige Zeit noch etwas zu tief. Man muss aber auch sagen, dass die grosse Mehrheit der Fälle völlig unproblematisch ist. Sexting ist also einfach eine Art, wie Sexualität ausgelebt wird. 

Dennoch kommt es manchmal zu problematischen Fällen.
Ja, und diese sind dann gleich sehr gravierend. Das Risiko, das Jugendliche eingehen, ist relativ hoch. Es ist aber nicht so, dass sie das nicht wüssten – genau darin liegt eben der Reiz.

Wie häufig kommt es zu problematischen Fällen?
Das kommt zum Teil auch auf den Bildungsgrad an. Ich unterrichte am Gymnasium. Da ist das Phänomen wohl etwas weniger verbreitet als in der Sekundarschule. Schulleiter und Pro Juventute reden von zwei bis drei Fällen pro Semester, wo es problematisch wird. Zudem ist vielfach nicht Sexting das eigentliche Problem, sondern es geht um Mobbing oder die Verbreitung von sexuellen Inhalten. Es ist nicht das Sexting selber, sondern eher das, was später mit den Bildern passiert.

Wie war das bei dem Fall des Horgner Sexting-Prozesses gegen einen Lehrling
Das Problem war hier, dass der Täter seine Opfer erpresst und vergewaltigt hat. Mit Sexting hatte die Sache nur deshalb etwas zu tun, weil die spätere Tat über den digitalen Austausch von Bildern stattgefunden hat.

Es gibt Stimmen, die kritisieren, in der Kampagne von Pro Juventute werde ein kaum vorhandenes Phänomen gezielt promotet. Sehen Sie das auch so? 
Ja, das ist teilweise so. Man muss die Organisation aber auch verstehen: Die Arbeit, die sie macht, muss auch finanziert werden. Da ist ein Thema wie Sexting natürlich sehr dankbar. Sobald es um Sexualität unter Jugendlichen geht, ist die Aufmerksamkeit sehr hoch. Darum wird das Thema auch ausgeschlachtet. 

Wird das Thema dramatisiert? 
Meiner Meinung nach schon. Man ist beim Thema Internet einfach noch nicht so weit, dass man versteht, dass es Unfälle gibt. Im Strassenverkehr ist es ja auch nicht so, dass man jeden Unfall künstlich aufbläst und deswegen in Frage stellt, ob man überhaupt noch mit dem Auto fahren sollte.

«3-6-9-12-Faustregel»
Kein Bildschirm unter 3 Jahren, keine eigene
Spielkonsole vor 6, kein Internet vor 9
und kein unbeaufsichtigtes Internet vor 12.  

Was können Eltern tun, um ihre Kinder im Internet zu schützen?
Es gibt die goldene «3-6-9-12-Regel» (siehe Infobox). Die beinhaltet den Satzteil «kein selbstständiger Internetzugang unter zwölf». Wichtig ist auch, dass man gewisse Dinge in einem bestimmten Kontext verstehen muss, beispielsweise, wenn man das Handy eines Jugendlichen in die Hand nimmt. Denn für viele Erwachsene ist es schwer zu verstehen, was da abläuft.

Das heisst, man soll mit den Kindern das Handy anschauen und über das, was da abläuft, reden? 
Ja, ich würde Eltern empfehlen, dass sie mal sagen «Zeig mir doch mal, was du im Moment gerade machst? Was findest du toll daran und wie funktioniert das?» Die Kinder also einfach mal dazu einladen, dass man selber mal zuschauen darf, damit die Kinder merken, dass sich die Eltern dafür interessieren, aber sich nicht unbedingt Sorgen machen.

Aber ist es realistisch, dass ein Kind dann wirklich auch darüber redet, wenn es beispielsweise schon mit Sexting in Berührung gekommen ist? 
Nein, das würde ein Kind den Eltern wohl nicht zeigen. Aber das gehört auch zur Entwicklung von Jugendlichen, dass sie ihre Eltern nicht gerade in die ersten sexuellen Erfahrungen mit einbeziehen.

Wie schätzen Sie im Allgemeinen den Umgang von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz mit dem Internet ein?
Jugendliche verhalten sich nicht einheitlich, sie zerfallen in verschiedene Gruppen. Eine davon ist die Gruppe der sogenannten Unterhaltungsorientierten. Das sind etwa ein Drittel bis 40 Prozent in der Schweiz und die sind relativ naiv und unbekümmert im Umgang mit Handys. Das sind auch oft Jugendliche, die schon vom Elternhaus her benachteiligt sind, wo sich die Eltern auch nicht darum kümmern oder nicht kümmern können. Und das sind dann auch meistens diejenigen, die einen fahrlässigen Umgang mit solchen Sachen haben. Ich würde aber sagen, dass die Mehrheit einen guten Umgang hat und sich Gedanken macht – ein gewisser Teil von ihnen handelt sogar übervorsichtig.

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