René Stutz und seine Frau Victoria reisen leidenschaftlich gerne. Sie waren schon in Russland, in der Karibik, in Asien. Mit den Einheimischen kommunizieren die beiden vor allem mit ihren Händen. Nicht, weil ihre Englischkenntnisse beschränkt sind: René und Victoria Stutz sind gehörlos.
Am 26. Dezember 2004 wird ihnen das beinahe zum Verhängnis. Als René und Victoria Stutz in ihrem Hotel am Patong Beach in Phuket frühstücken, rollt eine gigantische Welle vom Meer auf sie zu. Während andere durch den Krach und Schreie gewarnt werden, bekommen die beiden vorerst gar nichts vom lebensbedrohenden Tsunami mit, dem über 200'000 Menschen zum Opfer fallen sollen.
Gestenreich erzählt der heute 53-jährige Stutz von der Reise, die um ein Haar ihre letzte wurde, denn seine Sprache ist die Gebärdensprache. Stichworte liefern die nötigen Eckdaten, doch erst durch seine Gebärden erwacht die Geschichte zum Leben.
Die Geschichte, wie er und seine 41-jährige Frau haarscharf der Todeswelle entkamen:
Wir kommen am 25. Dezember nach einer 10-tägigen Rundreise in Phuket an. Weil unser Zimmer keine schöne Aussicht hat, bitten wir um ein Upgrade. Man verspricht uns in zwei Tagen ein Zimmer mit Meerblick. Darum packen wir unsere Koffer gar nicht aus. Wir feiern den Weihnachtsabend mit einem schönen Abendessen und gehen nach Mitternacht ins Bett.
Tags darauf stehen wir um neun Uhr auf und begeben uns ins Parterre zum Frühstücksbuffet. Ein Mann sitzt mit einer Zeitung am Pool, die Sonne scheint, am Himmel ist keine Wolke zu sehen.
Beim Frühstück sehen wir, wie zwei Polizisten am Fenster vorbeirennen. Aus Neugierde schaut Victoria nach – und winkt mich aufgeregt zu sich: «Eine Welle kommt auf uns zu!»
Ich denke mir erst nicht viel dabei und gehe mit meinem Frühstücks-Tablett ans Fenster. Und traue meinen Augen nicht: Da ist tatsächlich eine riesige Welle, und sie hat das Festland schon erreicht. «Nichts wie weg von hier» bedeute ich meiner Frau und renne los, das Tablett in den Händen. Als wir die Treppe erreichen, überschwemmt die Welle das gesamte Parterre und begräbt einen Koch unter sich. Uns kommt das Wasser bis an die Knie.
Wir eilen bis ganz oben, in den zweiten Stock, während sich hinter uns ein Stock nach dem anderen mit Wasser füllt. Hier herrscht Panik: Menschen schreien und rennen herum. Am Boden liegen leblose Körper, überall sind Verletzte, ein Mann hat eine offene Wunde am Oberschenkel. An den Wänden klebt Blut.
Noch immer halte ich das Tablett fest. Im Schock habe ich mich daran geklammert, es weder fallenlassen noch irgendwo hingestellt. Erst als ich von einer aufschnellenden Tür beinahe getroffen werde, komme ich zu Sinnen und stelle es am Boden ab – und esse noch ein Stück Brot.
Wir sehen, wie eine weitere grosse Welle aufs Festland zukommt. Vor einem Hotel gegenüber steht eine nackte Frau und ruft um Hilfe. Ein Hotelmitarbeiter ruft zurück, sie solle schnell zurück ins Gebäude und die Treppe hoch rennen. Doch sie ist in Panik und reagiert nicht. Die Welle reisst sie schliesslich mit. Keine Ahnung, was mit ihr dann geschah und ob sie überlebt hat.
Als sich das Meer wieder zurückzieht, beschliessen wir einen Fluchtversuch auf einen nahegelegenen Hügel. Ich hole die gepackten Koffer vom Zimmer und wir rennen los. Es stinkt nach Benzin – von den Autos, die demoliert wurden. Der Boden ist voller Schutt und Schlamm und Blut, wir bahnen uns den Weg zwischen den leblosen Körpern am Boden durch. Schweissüberströmt erreichen wir schliesslich den Hügel. Ein paar Menschen sind schon da.
Uns folgt ein Gast aus unserem Hotel, der einen kleinen Safe mit sich herumschleppt. Weil der Strom ausgefallen ist, konnte er ihn nicht mehr öffnen und hat ihn einfach aus der Wand gezerrt. Ich kann mir ein kurzes Lachen nicht verkneifen.
Drei junge Frauen wollen sich auch auf den Hügel retten, denn die nächste Welle ist schon unterwegs. Sie rennen, so schnell sie können, und die Menschen um uns herum schreien und feuern sie an. Bestürzt stelle ich fest, dass sie keine Chance haben. Die Welle kommt und schwemmt sie weg. Uns wird bewusst, welch grosses Glück wir hatten.
Wir harren auf dem Hügel aus, stundenlang, und sagen kein Wort. Wir sind sprachlos. Und hungrig. Wir wissen nicht, was wir tun sollen und können nicht mit den anderen Leuten kommunizieren. Endlich finden wir eine Schweizerin, die uns hilft. Sie telefoniert herum und versucht, Hilfe zu organisieren.
Nach mehreren Stunden werden wir schliesslich von einem Hotel-Mitarbeiter abgeholt. Wir eilen den Hügel hinunter zu einem Minibus mit neun Plätzen. Die Leute um uns herum wollen auch in den Bus, aber es hat einfach kein Platz für alle. Wir können sie nicht hereinlassen. Der Fahrer bringt uns weg vom Meer, navigiert um die Trümmer herum, hupt, dass die Menschen aus dem Weg gehen. Wir fahren einen Hügel hinauf, als das Wasser wieder kommt. Einmal mehr entkommen wir der Welle.
Wir werden in ein Hotel ins Landesinnere gebracht, wo wir das allerletzte Zimmer bekommen. Hier hat es fünf Zentimeter Wasser am Boden. Endlich gibt es etwas zu essen. Viele andere Touristen müssen auf der Strasse schlafen, weil es kein Platz mehr hat. Wir schlafen sehr schlecht in dieser Nacht, meine Frau Victoria wacht alle zwei Stunden auf und geht ans Fenster, um sicherzugehen, dass nicht eine weitere Welle kommt.
René und Victoria Stutz würden gerne sofort abreisen, doch das geht nicht. Erstens ist der Flughafen für zwei Tage gesperrt, zweitens haben die Verletzten Vorrang. Also bleiben sie noch sechs weitere Tage in Phuket. An Silvester stossen sie aufs Leben an.
Am 6. Januar 2005 fliegt das Ehepaar schliesslich in die Schweiz zurück, zusammen mit anderen Überlebenden. Doch direkt in den Alltag übergehen können die beiden nicht. «Ich wollte sofort anfangen zu Arbeiten, es ging nicht. Ich war mit dem Kopf nicht bei der Sache», sagt René Stutz. «Erst nach einem Monat konnte ich meinen Job wieder aufnehmen.»
Der Tsunami hat Spuren hinterlassen bei René und Victoria Stutz. Noch heute leidet René unter den Folgen des traumatischen Erlebnisses: «Mein Erinnerungsvermögen ist nicht mehr dasselbe seither», sagt er. Anfangs habe er alles vergessen, jetzt sei es nicht mehr so schlimm. Das Reisen verderben konnte ihnen der Tsunami nicht: Auch an den Ort der Katastrophe wollen sie eines Tages zurückkehren, um mit der Geschichte abzuschliessen. «Ein Hotel direkt am Meer werden wir aber nie mehr buchen», sagt er. «Und wir nehmen nur noch Zimmer mindestens im dritten Stock.»