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Mein Vater war pädophil: Ein Sohn erzählt

Wenn jede Kindheitserinnerung zerbricht (Symbolbild).
Wenn jede Kindheitserinnerung zerbricht (Symbolbild).
Bild: KEYSTONE

Mein Vater war pädophil: Die wahre Geschichte des Otto Riedo, erzählt von seinem Sohn

Mit 18 erfährt Dominik Riedo, dass sein Vater Knaben liebt. Jetzt hat der Schriftsteller aus Luzern das traurige Leben des Vaters in einem Buch niedergeschrieben.
09.01.2016, 15:3111.01.2016, 13:23
Simone Meier
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Es sind schliesslich die Fotos, die Dominik Riedo den Rest geben. Die Fotos, die er im Nachlass seines Vaters findet. Kinderpornografie. Buben in Unterhosen, die an den richtigen Stellen Löcher haben. Also hinten. Die Fotos sind die Bildwerdung all der Geschichten, die Dominik Riedo schon kennt. Der sichtbare Beweis. Der Rest waren Erzählungen, waren Texte, Tagebücher des Vaters, Polizeiprotokolle, Gutachten von Psychologen. Dominik Riedo ist 41, Sohn des Otto Riedo und Schriftsteller. Vor kurzem ist sein Buch «Nur das Leben war dann anders – Nekrolog auf meinen pädophilen Vater» erschienen.

Die Reaktionen, die Riedo auf sein Buch erhält, beginnen schon, bevor das Buch geschrieben ist. Dass man sowas nicht dürfe, dass man über sowas schweigen müsse. Die Leute denken, das Buch werde eine Verteidigungsschrift für den Vater. Es ist keine geworden. Es ist «allen Opfern» gewidmet. Seither sind die Reaktionen ausgewogener, viele teilen Riedo jetzt ihr Schicksal als Opfer mit, selten fragt jemand, ob er sich eigentlich bewusst sei, was er dem luzernischen Littau, in dem er aufgewachsen sei, angetan habe.

Dominik Riedo (l.) und sein Vater in den 70er-Jahren.
Dominik Riedo (l.) und sein Vater in den 70er-Jahren.
bild: zvg

Otto Riedo kommt 1942 als drittes von insgesamt 15 Kindern eines Bauern und Käsers in Tafers zur Welt, drei Jahre lang gibt ihn seine überforderte Mutter ins Waisenhaus. Danach ist er am liebsten mit seinen jüngsten Geschwistern zusammen, nicht mit den gleichaltrigen, die Kleinen sind seine kleinen Engel. Er macht eine Lehre als Bäcker, geht nach Zürich, macht eine kaufmännische Ausbildung, zieht nach Luzern, macht eine Lehramtsausbildung für Berufstätige. Damit ist er am Ziel. Die Schule ist voll von möglichen «kleinen Freunden». 

Im Dezember 1992 werden in der Schweiz zwölf Pädophile verhaftet, Otto Riedo ist einer davon.

Er heiratet. Er hat zwei Söhne. Er vergreift sich nicht an seinen Söhnen. Er bietet ihnen viel, er liebt nichts so sehr wie die Welt von Kindern, er identifiziert sich später mit Michael Jackson. Auch die «Knaben» lockt er mit Liebe. Mit Computerspielen, Nachhilfestunden, damit, dass er für sie kocht.

Die meisten sind Kinder von Migranten. Sie sind Otto Riedo dankbar für seine Hilfe. 1980 entdeckt ihn seine Frau zum ersten Mal mit einem von ihnen. 1987 zwingt sie ihn, auszuziehen. Die Nachbarn sind Polizisten. Niemand sagt etwas. Da ist Otto Riedo schon nicht mehr Lehrer, seine Nerven haben es nicht ausgehalten. Er ist jetzt Hausmann und Hilfsarbeiter. Die Knaben findet er jetzt vor allem in Shopping-Centern. Am meisten liebt er den Nikolaustag, wenn die Kinder dem Samichlaus auf den Schoss klettern. Stundenlang schaut er zu. Er liebt «Kevin – Allein zu Haus».

Es war einmal ein unschuldiger Film namens «Kevin – Allein zu Haus».
Es war einmal ein unschuldiger Film namens «Kevin – Allein zu Haus».
Bild: Twentieth Century Fox

Otto Riedo gehört zu einem grösseren Schweizer Pädophilen-Ring. 1988 gibt es eine erste Polizeiuntersuchung. 1992 versucht er, nach Thailand auszuwandern, wird dort aber von andern Pädophilen betrogen und verliert all sein Geld. Im Dezember 1992 werden in der Schweiz zwölf Pädophile verhaftet, Otto Riedo ist einer davon.

Allein zwischen 1987 und 1992 hat er 25 Knaben «missbraucht». Zwar hatte der Missbrauch Grenzen – es gab keine Penetration –, aber sonst geschah so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann. Das Strafmass: 18 Monate bedingt. Erst 1995, mit dem Fall Dutroux in Belgien, werden die Strafen für Pädophile strenger, schreibt Dominik Riedo.

Dieses Buch ist eine traurige, die Leser mit eisigem Griff packende Reportage über einen Täter.

1992 erfahren seine Söhne endlich, dass der Vater pädophil ist. Zwei Kindheiten mehr zerbrechen und die Söhne fragen sich: Wieso hat sich Vater an uns nie vergangen? Weil er uns zu sehr liebte? Oder zu wenig? Und was war eigentlich mit den «Freunden», zu denen er uns gelegentlich mitnahm? Sahen die uns immer als Sexualobjekte? Und vererbt sich sowas? Und wieso haben wir als Kinder unseren Puppen mit einem Messer eine Vagina zurecht geschnitten?

Michael Jackson, der Mann, der am liebsten für Kinder lebte, war das Vorbild von Otto Riedo.
Michael Jackson, der Mann, der am liebsten für Kinder lebte, war das Vorbild von Otto Riedo.
Bild: Anton Ivanov/ Shutterstock

«Nur das Leben war dann anders» ist zwar ein Buch für die Opfer, aber keines über sie. Es ist ein beklemmendes, erschütterndes Buch über den Vater, der 2013 als schwerer Alkoholiker starb. Es ist voll mit dessen Aufzeichnungen, sie sind grässlich. Einerseits in ihrer tiefen Not, in ihrem Schwärmen für die völlig verklärten Wesen, denen er eine erwachsene Gefühlswelt in einem kindlichen Körper zuspricht. Andererseits in einem sturen Verleugnen jeder Schuld, in der Idealisierung des eigenen Begehrens.

Es sind Zeugnisse einer absoluten Realitätsblindheit. Und von einem Leben, das immer nur mit Macht in Richtung Untergang gefahren wurde. Von einem Schicksal und einem Grauen, die sich jahrelang vor aller Augen abspielten. «Nur das Leben war dann anders» ist eine traurige, die Leser mit eisigem Griff packende Reportage über einen Täter. Zusammen getragen von einem, der bei allem Ekel, bei allem Zuviel, bei aller Unerträglichkeit der Erkenntnisse nie aufhören konnte, diesen Täter zu lieben. Weil er sein Vater war.

Dominik Riedo: Nur das Leben war dann anders – Nekrolog auf meinen pädophilen Vater. Offizin Verlag, Zürich 2015. Ca. 29 Franken, 267 Seiten.

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16 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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E-Lisa
09.01.2016 17:02registriert Juni 2015
Blanker Hohn "Das Strafmass: 18 Monate bedingt." für jedes Opfer, das ein Leben lang darunter leiden wird 😔 ...
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MergimMuzzafer
09.01.2016 18:46registriert Februar 2014
Ehrlich gesagt halte ich das Schweizer Strafrecht bei Sexualstrsftaten für viel zu mild, wenn man bedenkt, was die langfristigen Folgen für die Opfer sind.
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dracului
10.01.2016 13:28registriert November 2014
Auf der einen Seite gibt es die Leute, die sofort nach Gesetzen und Verwahrung für die "Gestörten" schreien. Auf der anderen Seite geraten Helfende schnell in Verdacht Pädophilie zu unterstützen. Auf der Strecke bleiben Betroffene, die in ihrer Not keinen Ansprechpartner haben und im schlimmsten Fall sogar ihre Neigung ausleben. Für eine sexuelle Präferenz sollte niemand verurteilt werden, aber dass wir den Betroffenen die frühe, prophylaktische Hilfe veweigern, dafür müssen wir alle uns verantworten! Solange wir nicht bereit sind zu helfen, werden irgendwo neue Kinder missbraucht werden!
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