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«Eine nicht enden wollende Tragödie»: 30 Jahre Bhopal

Chemie-Katastrophe in Indien

«Eine nicht enden wollende Tragödie»: 30 Jahre Bhopal

Bhopal-Katastrophe

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Bhopal-Katastrophe
Ein Sicherheitsmann patrouilliert vor dem stillgelegten Fabrikgelände der Union Carbide Corp, heute Dow Chemical Co. Die Chemie-Katastrophe von 1984 forderte Tausende Menschenleben, Hunderte Anwohner leiden 30 Jahre später noch an den Folgeschäden des Chemieunfalls.
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Es war eines der schlimmsten Chemieunglücke der Geschichte. Vor 30 Jahren explodierten Tonnen von hochgiftigem Methylisocyanat im indischen Bhopal. Auf die Katastrophe folgte eine zweite – die bis heute dauert.
01.12.2014, 12:0401.12.2014, 15:22
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An der Oberfläche sieht es idyllisch aus. Ein luftiger Mischwald steht auf dem Gelände der ehemaligen Fabrik der Union Carbide Corporation, dazwischen ein paar Palmen – typische Vegetation für Zentralindien. Doch an manchen Ecken liegt ein beissender Geruch in der Luft, irgendetwas zwischen Chlor und Bleichmittel. «Eigentlich sollte das Gelände abgeschirmt sein wie die Ruine eines Atomkraftwerks», sagt T. R. Chouhan.

Der hochgewachsene Mann hat einst als Anlagenführer in dieser Pestizidfabrik in Bhopal gearbeitet. Bis vor 30 Jahren, als in der Nacht vom 2. auf 3. Dezember 1984 viele Tonnen des hochgiftigen Gases Methylisocyanat austraten. Tausende Menschen starben in nur wenigen Stunden, laut Menschenrechtlern bis zu 22'000 Menschen insgesamt – eines der schlimmsten Industrieunglücke in der Geschichte. 

Bhopal, Hauptstadt des indischen Bundesstaats Madhya Pradesh.google maps

Und bis heute liege der giftige Staub herum, sagt Chouhan. «Bei jedem Monsunregen wird noch mehr in den Boden gewaschen.» Noch während Chouhan das erzählt, tutet in der Nähe ein Zug und erinnert daran, dass das Gelände keine drei Kilometer vom Bahnhof der 1,8-Millionen-Stadt entfernt liegt. 

Herzprobleme, schlechte Augen

Noch näher, viel näher lebt die 50 Jahre alte Nu Jaha. Nur eine breite Strasse trennt ihre Hütte vom Fabrikgelände. «In dieser Nacht war überall Rauch, und die Augen tränten, als würde jemand Pfeffer und Chili verbrennen. Wir konnten nicht atmen», erzählt sie. «Wir sind einfach nur gerannt.»

Herzprobleme, Atemlosigkeit und Juckreiz: Tausende von Slumbewohner in Bhopal leiden an den Folgen der Chemie-Katastrophe.
Herzprobleme, Atemlosigkeit und Juckreiz: Tausende von Slumbewohner in Bhopal leiden an den Folgen der Chemie-Katastrophe.Bild: © Reinhard Krause / Reuters/REUTERS

Heute lebt Nu Jaha wieder am gleichen Ort, in J.P. Nagar, das zwar Kolonie genannt wird, aber eigentlich ein Slum ist. Ihr Sohn Afroz Khan war beim Unglück noch ein Kleinkind, heute leidet er an dauerhaften Kopfschmerzen, ihm fehlt eine Niere und er kann nicht einmal ein paar Minuten stehen. «Ich will so oft weinen und werde wütend, denn wenn es kein Gasunglück gegeben hätte, wäre unser Leben jetzt nicht so schwierig», sagt sie. «Das Leben geht so weiter, immer weiter, ich weiss nicht, wann es enden wird.»

Wo auch immer in J.P. Nagar die Tür über den offenen Abwasserrinnen aufgeht, klagen die Menschen über Schmerzen: Herzprobleme. Atemlosigkeit. Juckreiz. Schlechte Augen. Depressionen. Viele Kinder kommen mit Geburtsfehlern auf die Welt, wie etwa die heute sechs Jahre alte Enkelin von Hazra Bee. «Sie kann weder laufen noch sprechen», sagt die 57-Jährige und beginnt zu weinen.

Die juristischen Folgen der Bhopal-Katastrophe
Carbide India Limited (UCIL) war die indische Tochterfirma des US-Konzerns Union Carbide Corporation (UCC). 1989 erklärten sich die Amerikaner bereit, 470 Millionen US-Dollar als endgültige Entschädigung für die Opfer zu zahlen.

Das sind, gemessen an den mehr als einer halben Million Betroffenen, im Schnitt weniger als 850 Dollar pro Person. Nach massiven Protesten entschied der oberste Gerichtshof in Indien, UCIL müsse viele Millionen für den Bau eines Grosshospitals zahlen.

Doch wurde das Unternehmen vorher verkauft und in Eveready Industries umbenannt. Die US-Mutter wiederum wurde von Dow Chemical übernommen. Die Regierung des indischen Bundesstaates Madhya Pradesh nahm das Gelände zurück, meint aber, der Abfall dort gehöre ihr nicht. Damit fühlt sich niemand mehr für die Säuberung zuständig, und den Opfern fehlen Ansprechpartner.

Allerdings konnten Strafverfahren weitergeführt werden. Mehr als 25 Jahre nach dem Unglück wurden leitende Angestellte der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden. Sieben Manager erhielten je zwei Jahre Haft. Die Anfragen der indischen Regierung an die USA, den damaligen Firmenchef Warren Anderson auszuliefern, blieben unerhört. Anderson starb Ende September. (sda/dpa)

Giftiges Grundwasser

Schuld ist dabei wahrscheinlich nicht nur das Gift von 1984. Laut Hilfsorganisationen gibt es eine zweite Katastrophe von Bhopal, die eher begann und bis heute dauert. Denn vom Beginn der Produktion 1979 an habe Union Carbide den giftigen Abfall in Gruben auf dem Fabrikgelände geschmissen, sagt Sathyu Sarangi, Gründer der Sambhavna-Klinik. Von dort aus verseuche der Giftmüll das Grundwasser.

«Mindestens 50'000 Menschen haben dieses Wasser, das sie mit Handpumpen holen, getrunken und sich so Leber, Nieren, Lungen und Haut zerstört», meint Sarangi. Erst in diesem August – Jahrzehnte also nach dem Versenken des Mülls – habe es die Regierung des Landes geschafft, den Menschen in den betroffenen Teilen der Stadt Wasserleitungen zu legen.

Wasserstelle ausserhalb von Bhopal. Im Hintergrund die Überreste des Fabrikgeländes.
Wasserstelle ausserhalb von Bhopal. Im Hintergrund die Überreste des Fabrikgeländes.Bild: © Reinhard Krause / Reuters/REUTERS

Trügerisch schön

«Das Problem ist, dass die Bodenverschmutzung die halbe Stadt betrifft», sagt Pravir Krishna, Hauptgeschäftsführer der Abteilung Gasentschädigung der Stadtverwaltung Bhopal. Ob eine Lösung zum Beispiel die Evakuierung des ganzen Gebietes oder die Waschung des Erdreichs sein könnte, will oder kann er nicht sagen. «Wir arbeiten daran.»

Drei Jahrzehnte seien vergangen, sagt Madhu Malhotra von Amnesty International, und das Leiden gehe weiter. «Eine nicht enden wollende Tragödie», sagt sie. Dabei schaut sie auf den Teich neben der Fabrik, der eigentlich eine Giftmüllgrube sei, die sich mit Wasser gefüllt hat.

Protestaktion von Greenpeace-Aktivisten während des WEF 2005.
Protestaktion von Greenpeace-Aktivisten während des WEF 2005.Bild: X01211

«Es sieht trügerisch schön aus», sagt sie. Am Ufer fischen und baden ein paar Männer. «Die Fische verkaufe ich auf dem Markt am Bahnhof», sagt Vinod Matrubaba, der 30 Jahre alt ist, aber aussieht, als sei er Mitte 40. «Ich weiss, dass das Wasser chemisch verseucht ist, aber was soll ich machen? Ich bin arm und muss überleben.» (wst/sda/dpa)

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