Für Martin Schulz war es ein bitterer Sonntag. Der Vorsitzende und Kanzlerkandidat der SPD musste in Nordrhein-Westfalen nicht nur die dritte Niederlage bei einer Landtagswahl in Folge einstecken. Der frühere Bürgermeister von Würselen stammt selber aus dem bevölkerungsmässig grössten deutschen Bundesland, das traditionell eine «rote» Hochburg ist.
Die Niederlage von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft mag in erster Linie regionalpolitisch begründet sein. Die Bilanz ihrer rot-grünen Regierung ist durchzogen. Noch vor wenigen Wochen lag Krafts SPD in den Umfragen dennoch klar vor der CDU. Damals befand sich die deutsche Politik im Banne des Schulz-Effekts. Die Ernennung des früheren Präsidenten des Europaparlaments zum SPD-Kanzlerkandidaten katapultierte ihn und die Partei ins Umfragehoch.
Davon ist wenig geblieben. Die CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel liegt landesweit wieder klar vor den Sozialdemokraten. Deren Niederlagen im Saarland, in Schleswig-Holstein und nun in Nordrhein-Westfalen zeigen, dass der Schulz-Hype weniger die eigene Wählerschaft mobilisiert hat als jene der Christdemokraten. Das sind schlechte Voraussetzungen für die Bundestagswahl im September. Ein Machtwechsel in Berlin rückt in weite Ferne.
«Martin Schulz braucht jetzt ein Wunder», meint Spiegel Online. Wo das herkommen soll, ist schleierhaft. Es gibt in Deutschland schlicht keine Wechselstimmung. Wirtschaftlich geht es unserem nördlichen Nachbarn prächtig. Die Exporte befinden sich auf einem Rekordniveau, die Arbeitslosigkeit sinkt und sinkt. Viele Firmen suchen händeringend nach qualifizierten Leuten.
Die «Bild»-Zeitung jubelte letzte Woche über den «Aufschwung ohne Ende». Die Voraussetzungen für einen Merkel-Wahlsieg sind ideal, denn auch im restlichen Europa befindet sich die Wirtschaft nach einer langen Schwäche auf Wachstumskurs. Die Eurokrise ist nicht gelöst, hat sich aber entspannt. Gleiches gilt für die Flüchtlingskrise, die Merkel vor zwei Jahren in Atem hielt.
Auf der Weltbühne ist der Ruf der Kanzlerin besser denn je. Die promovierte Physikerin aus der ehemaligen DDR gilt als Personifikation der Vernunft und damit als wichtigste Gegenspielerin sowohl von US-Präsident Donald Trump wie des russischen Machthabers Wladimir Putin. Teilweise wird sie geradezu zur Retterin der westlichen Demokratie hochstilisiert.
So gesehen kann «Mutti» fast nichts falsch machen. Und trotzdem stimmt die Aussicht auf eine weitere Amtszeit nach zwölf Jahren im Kanzleramt nicht wirklich froh. Das liegt einerseits an Angela Merkel selbst. Sie ist mehr Verwalterin als Gestalterin. Innenpolitisch zehrt sie von den Reformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder. Ihre «Leistung» bestand darin, die politische Mitte zu «besetzen», womit sie an der rechten Flanke Raum für die AfD schaffte.
In der Euro- und der Flüchtlingskrise wirkte Merkel wie eine Getriebene, die nur reagierte und nicht agierte. Typisch für ihren Mangel an Weitsicht ist die Politik gegenüber der Türkei. Sie zeigte ihr die kalte Schulter, als sie sich noch auf Reform- und EU-Kurs befand. Als die Flüchtlinge vor zwei Jahren nach Europa strömten, musste sie vor dem zunehmend autokratischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan zu Kreuze kriechen und ihm einen vorteilhaften Deal anbieten.
Angela Merkel tendiert dazu, Probleme auszusitzen. Darin ähnelt sie ihrem «Ziehvater» Helmut Kohl. Solche Parallelen beunruhigen, denn 1994 hatte sich Kohl nach zwölf Jahren als Kanzler erneut zur Wahl gestellt und gewonnen. Es folgten vier bleierne Jahre, in denen Deutschland zum «kranken Mann Europas» wurde. Die Kosten der Wiedervereinigung lasteten auf dem Land, Reformen kamen nicht vom Fleck.
Trotzdem nominierte die CDU Kohl 1998 erneut als Kanzlerkandidat. Nun aber hatten die Deutschen genug. Gerhard Schröder und seine SPD schafften den Machtwechsel. Bei einer Wiederwahl von Angela Merkel könnten erneut vier unergiebige Jahre bevorstehen, obwohl Deutschland wesentlich besser aufgestellt ist als in den 1990er Jahren. Doch gerade in guten Zeiten sollten die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Man traut dies Angela Merkel nicht zu.
Dabei profitieren nicht alle Deutschen vom Wirtschaftsboom. Rund 20 Prozent gelten als Niedriglohnempfänger. Sie arbeiten für weniger als zehn Euro pro Stunde und haben einen Verdienst, der nur knapp oberhalb der Armutsgrenze liegt. Besonders gross ist ihr Anteil in den neuen Bundesländern im Osten. Es ist die Kehrseite der «Agenda 2010» von Gerhard Schröder, die innerhalb der SPD auch aus diesem Grund umstritten ist.
Martin Schulz hat mehr «soziale Gerechtigkeit» versprochen. Wie das geschehen soll, konnte er bislang nicht erklären. Im aktuellen Umfeld müsste Schulz eine optimistische Botschaft entwickeln, ähnlich wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Die SPD aber leidet wie viele linke Parteien darunter, dass sie keine überzeugende Antwort hat auf die Herausforderung durch Globalisierung und Digitalisierung. Die alten Umverteilungsrezepte funktionieren nur bedingt.
Vielleicht schafft Schulz das Wunder. Wahrscheinlich ist es nicht. Angela Merkel wird wohl weiterregieren. Vielleicht gelingt es ihr, sich als Visionärin neu zu erfinden. Vielleicht schickt sie ihren «Zuchtmeister» Wolfgang Schäuble in den verdienten Ruhestand und schafft so Raum für eine Politik in der Eurozone mit weniger Austerität und mehr Innovation und Investitionen. Vielleicht nimmt sie die globale Führungsrolle wahr, in der viele sie gerne sehen würden.
Kann sein, dass es so kommt. Eine Wette darauf abschliessen sollte man nicht.